Was andere ambitionierte Inselorte ihren Gästen schon seit Jahren anbieten, gibt es nun auch in Sóller hinter den sieben (Tramuntana-)Bergen: geführte kostenlose Stadtrundgänge an einigen Sonntagen in der Vor- und Nachsaison. Der Erfolg dieser von den Tourismusverantwortlichen und den örtlichen Hoteliers getragenen Initiative kann sich sehen lassen: Bis zu 60 Neugierige aus mehreren Ländern pflegen sich jeweils von der fünfsprachigen Tourismusfachfrau Aina Mora Vives zwei Stunden durch den Ort führen zu lassen, den Erzherzog Ludwig Salvator vor 150 Jahren als „schönste Siedlung Mallorcas“ bezeichnete.

Sóller liegt jenseits des mächtigen Gebirgszuges der Serra d‘Alfàbia in einem mit Olivenbäumen und Zitrusfrüchten reich gesegneten Talkessel, der sich über einem muschelförmigen Naturhafen zum Meer öffnet. Ein Garten Eden - mit einem Wermutstropfen. Jahrhundertelang trennte das Gebirge die Talbewohner von der übrigen Insel ab und erschwerte den Austausch und den Handel mit der Außenwelt. Was zu viel Eigeninitiative zwang. So stellten die Sóllerics schon 1370 einen lese- und schreibkundigen Mann namens Juan de Viana als Lehrer ein, um die Ausbildung ihrer Kinder zu garantieren - für jene Zeit eine Pionierleistung. Da man die wirtschaftliche Isolation nur schwer im Alleingang durchbrechen konnte, ging man oft im Kollektiv ans Werk, was das Zusammengehörigkeitsgefühl zusätzlich fördern half. Ein Dokument aus dem Jahre 1557 belegt beispielsweise, dass schon damals spezielle Trägergruppen - die traginers - Wein, Zitrusfrüchte und Getreide in mühseligen und nicht ungefährlichen Aktionen über das Gebirge nach Palma buckelten. Unten im Hafen suchten tüchtige und wagemutige Zimmerleute dem Meer zu trotzen und den für sie (überlebens-) wichtigen Seeweg zu öffnen. Sie begannen, stolze Segler zu bauen, von denen die größten den Atlantik überqueren konnten.

Gemäß dem Kultursachverständigen Miguel Nadal Palou fällte man die Bäume - vor allem Steineichen und Pinien - nach feststehendem Ritual entweder im Februar oder August zu Vollmondzeiten, weil dies nach der damaligen Vorstellung das beste Holz ergab. Ab dem 16. Jahrhundert verließen erste mit Orangen beladene Schiffe Sóller. Die süßen Früchte, die damals für viele Menschen in Europa neu waren, fanden reißenden Absatz. Doch Piraten, welche nur zu oft Schiffe und Ladungen raubten und auch vor Landüberfällen nicht zurückschreckten, machten lange einen einträglichen dauerhaften Handel unmöglich.

Erst nach dem Niedergang der Seeräuberei in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erlebte der Talkessel ein allerdings kurzes goldenes Zeitalter. Vor den Revolutionswirren nach Sóller flüchtende Franzosen begannen, die Verschiffung der Orangen nach Frankreich zu organisieren, wo Verwandte und Bekannte Südfrüchtehandlungen eröffneten und diese nach und nach in einem genossenschaftlichen Netz zusammenfassten. Der Erfolg beflügelte. Im Tal suchte man nun, auch den rückwärtigen Riegel zu knacken. 1852 begannen die Bauarbeiten an der Passstraße. Dass Bauwerk konnte am 15. September 1860 durch die spanische Königin Isabel II. eingeweiht werden. Die blaublütigen Ehrengäste fuhren in einem Kutschen-Konvoi über den Berg und wurden in Sóller mit aufgespanntem Triumphbogen empfangen.

Dem Jubel folgte schon wenig später der jähe wirtschaftliche Niedergang. Ein Schädling zerstörte die meisten Orangenplantagen, was das Tal in eine fürchterliche Krise stürzte. Aus vielen Familien mussten arbeitsfähige Söhne auswandern und in fremden Ländern Arbeit und Lohn suchen. Jene, die über etwas Reisegeld verfügten, schifften sich nach Kuba, Puerto Rico oder Venezuela ein, die anderen schlugen sich mehrheitlich nach Frankreich, Belgien und in die Schweiz durch. Viele dieser jungen arbeitsamen Sóllerics schafften es, kamen zu Reichtum und zeigten Heimattreue. Sie kehrten zurück, heirateten und bauten prunkvolle Stadthäuser. 1899 gründeten die Bürger gemeinsam eine eigene Bank, legten hier ihr Geld an und ließen ein Gas- und Stromnetz sowie eine eigene Trinkwasserversorgung bauen. Um die Jahrhundertwende gehörte Sóller mit damals 9.000 Einwohnern zu den reichsten Städten in Europa. Als die Regierung 1904 bei der Planung des Ausbaus des mallorquinischen ­Eisenbahnnetzes das Tal aus topographischen Gründen überging, wehrten sich die Bewohner mit einer Petition dermaßen heftig, dass ihr schließlich stattgegeben wurde. Im Rahmen einer beispielhaften Solidaritätsaktion zeichneten darauf praktisch alle Familien Anteilscheine und sicherten damit die Finanzierung der Bahn. Sie wurde am 16. April 1912 eingeweiht und transportierte anfangs fast ausschließlich Orangen.

Später mutierte sie zur gehätschelten nostalgischen Touristenattraktion. 1999 und 2000 sind als Boomjahre in die Statistik eingegangen (über eine Million Passagiere pro Jahr, davon 95 Prozent Touristen). Seither sind die Benutzerzahlen stark, jedoch nicht alarmierend gesunken. Ungewiss wird die Zukunft der Minibahn erst im Jahre 2011, wenn die Konzession ausläuft und die Regierung zu entscheiden hat, ob sie diese verlängern oder ob sie selber die Kontrolle übernehmen will.

Nicht nur mit ihrer Bahn, auch mit anderem Althergebrachten fühlen sich die Sóllerics verbunden. So gibt es nach wie vor zwei Ölmühlen im Ort. Eine lässt sich in den Grundbüchern bis ins Jahr 1561 zurückverfolgen. Obwohl Sóller, zu dessen Gemeindegebiet auch der Hafen und der Weiler Biniaraix gehören, seit der Eröffnung des Straßentunnels im Februar 1997 jetzt leichter und rascher erreichbar ist, was gemäß den Fachleuten die Landpreise teilweise um das Vier- oder Fünffache hat steigen lassen, sind dem Garten Eden hinter den Bergen wilde Bauexzesse weitgehend erspart geblieben. In den Gässchen der Stadt drängen sich die Steinhäuser wie eh und je eng aneinander. Neben Herrschaftshäusern im Kolonial- stehen Villen im Jugendstil, der hier Modernismo heißt. Nach Palma gilt Sóller als zweitwichtigste Jugendstil-Stätte Mallorcas.

Ein Paradestück, die altehrwürdige Pfarrkirche Sankt Bartomeu am Hauptplatz, ist erst nach langem Anmarschweg zu ihrem Modernismo-Glück gekommen. Auf dem Gelände einer Moschee gewachsen, erlebte das Gotteshaus im Laufe von Jahrhunderten allerlei Aufstockungen und Stileinflüsse. Zeitweise war die Kirche von einer Schutzmauer umgeben. Später verlegte man ihren Eingang und krönte schließlich alles mit der von Gaudí-Schüler Joan Rubió i Bellver geschaffenen Hauptfassade. Vom gleichen Meister stammt auch die Vorderfront der Bank am Hauptplatz. Den Kunden dieses Institutes bleibt über das Wochenende und an Festtagen der Bezug von Bargeld verwehrt: Die Fassade steht unter Denkmalschutz, der Einbau von Geldautomaten wurde untersagt. Renoviert wird derzeit mit Unterstützung der Europäischen Union das schönste Jugendstilhaus der Stadt, die Villa C’an Punera (das Haus zum Pflaumenbaum). Nach getaner Sanierungsarbeit soll im Gebäude ein Museum sowie eine Modernismo-Fachstelle eröffnet werden.

Sóller bietet seinen Gästen ingesamt 2.000 Hotelbetten an. Die verhältnismäßig geringe Bettenzahl ist ein Indiz dafür, dass man im Talkessel primär auf überblickbaren Qualitätstourismus setzt. Weil natürlich auch die täglich mit der Nostalgiebahn anreisenden Tagesausflügler zum Kassenklingeln beitragen, lässt es sich jenseits der Serra Tramuntana offensichtlich gut leben. Im Unterschied zum eher auf Massenbetrieb eingestellten Hafen macht es die Stadt Sóller den Tagesausflüglern nicht unbedingt einfach. Die Fenster und Türen der Stadthäuser sind meist verschlossen. Auch bleiben die Einheimischen tagsüber weitgehend im Hintergrund. Lediglich die reich ausgestatteten internationalen Zeitungsständer der Kioske zeugen vom kosmopolitischen Leben, die Süßigkeiten in den Konditoreien lassen französischen Einfluss erahnen. Erst abends spielt die Stadt ihren Charme aus. In den Lokalen beginnt das Leben zu pulsieren, nun spürt man jenen Hauch von Weltoffenheit, der in der Provinz so sehr beeindruckt.

Etwas Sóller-Geist atmen die Teilnehmer an den Stadtführungen am Schluss des Rundganges. Männer und Frauen der Gruppe Aires Sóllerics spielen und tanzen in der offenen Halle des Bahnhofgebäudes für die Gäste. „In unserer derzeit 35 Mitglieder zählenden Gruppe dürfen alle mitmachen, die Freude an der Bewegung und an der Volksmusik haben“, erläutert Leiter Felip Morell (30). Die Tänzerinnen und Tänzer tragen alle die frühere Arbeitstracht der Landleute. „Dass zu dieser Tracht zwingend ein Kopftuch oder ein Hut, lange Ärmel und manchmal auch Handschuhe gehören, ist keineswegs Zufall“, verrät Aina Mora Vives. Und sie ergänzt: „Unsere Landleute schützten sich einst bei den Feldarbeiten vor allem deshalb vor der Sonne, um eine möglichst weiße Haut wie die vornehmen Leute jener Zeit zu bewahren.“ Eine andere Eigenart dieser vor 300 Jahren aus Frankreich nach Sóller gekommenen Volkstänze sticht ins Auge: Die Frau gibt den Ton an und führt den Partner. Ähnliches lässt sich heutzutage bei Ehepaaren in vielen Ländern Europas auch abseits der Tanzdielen beobachten.

In diesem Frühjahr finden am 8. März, 29. März und 5. April weitere Führungen statt. Die Teilnahme ist kostenlos. Anmeldung beim Tourismusbüro von Sóller. Treffpunkt ist der Haupteingang der Bahnstation.