Von Thomas Fitzner www.thomasfitzner.com

Der katholische Priester Jaume Santandreu ist bekennender Homosexueller und sagt Sätze wie: „Die Kirche hat ein Demokratiedefizit. Es geht doch nicht an, dass vier Greise in Transvestitenkluft bestimmen, wer Papst wird." Die Amtskirche sagt Sätze wie: „Santandreu ist ein schwieriger, heikler und komplexer Fall." Mit der Herausgabe der spanischen Version eines Buches, in dem der 1938 in Manacor geborene Geistliche behauptet, er sei als Kind von einem Mönch sexuell missbraucht worden, ist dieser Fall soeben noch schwieriger, heikler und komplexer geworden.

Dem Pressesprecher der Diözese, Eugeni Rodríguez, kommt eine wortlose Wut hoch, das spürt man sogar am Telefon. Was das Buch anbelangt, bleibt er zunächst auf der offiziellen Linie: Kein Kommentar. Auf die Frage, ob er die Öffentlichkeit mit Santandreus Version der Dinge alleine lassen will, spielt er die Bedeutung dieses „Romans" herunter.

„Nacido hombre" (Als Mensch geboren) deklariert sich jedoch als Autobiografie, die darin erhobenen Vorwürfe sind massiv. Santandreu berichtet, als Neunjähriger gemeinsam mit mehreren Mitschülern von einem Mönch sexuell missbraucht worden zu sein, und auch darüber, wie die Kirche den Fall entsorgt habe: Der Mönch wurde aufs Festland versetzt, Santandreu musste ein Schweigegelübde ablegen, die Aufzeichnungen wurden vom

Diözesanarchiv vernichtet, „wie alle Dokumente zu Vorgängen dieser Art".

Rodríguez atmet durch. „Santandreu erzählt seit 30 Jahren dieselben Geschichten." Für den Vertreter einer Institution, die seit 2.000 Jahren dieselbe Geschichte erzählt, ein seltsames Argument. Doch der Pressesprecher kommt in Fahrt. Was Santandreu in seinem Buch behaupte, seien „Lügen und Erfindungen", die im Wesentlichen dazu dienten, das Buch zu verkaufen.

Treffen mit dem Verfasser in Ca´n Gazà (siehe Kasten). Santandreu verabschiedet gerade eine Journalistin, die mit leuchtenden Augen abzieht. Santandreu macht Journalisten glücklich. Er weiß das, und er weiß auch, womit. Er sagt nicht gelegentlich etwas Provokantes, sondern rüttelt wie ein Dauer-Erdbeben an allen Tabus der Kirche. Als ich ihn zum ersten Mal hörte, antwortete der Priester in einem Radioprogramm zum Jahreswechsel auf die Frage des Moderators, welcher Aspekt seines Lebens im Vorjahr zu kurz gekommen sei: lujuria. Das lässt sich elegant mit Sinnlichkeit übersetzen, weniger elegant mit Lüsternheit. Im Harem des Mönchs

Im Literaturbetrieb ist der Priester kein Neuling. Er hat Gedichtbände veröffentlicht und für den Roman „Catedral amb armaris" (Kathedrale mit Wandschränken) über Homosexualität in der Kirche den Terenci-Moix-Preis 2006 für Gay- und Lesbenliteratur erhalten, eine Auszeichnung, die eher selten an katholische Geistliche ergeht. 2007 bekam er den Pare-Colom-Preis für mediterrane Literatur, neuerlich für einen Roman mit heikler Thematik: In „Negrada" (Schwarzmalerei) rollt er auf Grundlage einer wahren Begebenheit - der angeblichen Vergewaltigung einer 14-Jährigen durch einen Schwarzafrikaner - das Thema Rassismus auf.

Schon 1997 erhielt er für seine Autobiografie den „Premio Miquel Àngel Riera". Die spanische Übersetzung gibt er nun gemeinsam mit dem Übersetzer Àlex Volney unter dem Fantasie-Label „Flor del Segle" heraus (20 Euro, im Buchhandel). In seinem Text bricht der Priester das jahrzehntelange Schweigen, bricht auch mit dem Format der fiktiven Erzählung, deklariert somit die geschilderten Kindheitserlebnisse in der namhaften Lasalle-Schule in Manacor als authentisch.

Santandreu macht es dem Leser nicht leicht. Er zeichnet kein Schwarz-Weiß-Bild, klagt nicht an, stilisiert sich nicht zum Opfer, erzählt über eine Beziehung, die ihm selbst, bis zu einem klärenden Gespräch im Priesterseminar, nie als Sünde erschien, in der er sich nie sexuell missbraucht fühlte. In dieser schwer fassbaren Liebesbeziehung hat sogar Eifersucht Platz, denn Bruder Anselmo - fiktiver Name für einen realen Mönch - unterhielt einen regelrechten „Harem", eine Gruppe auserlesener Schüler, die er in seine Zelle kommen ließ, um mit Zärtlichkeiten die Schwäche des Fleisches zu zelebrieren, bis hin zur Masturbation, doch - Santandreu ist explizit - nie darüber hinaus. Konsequenterweise nennt der Autor das entsprechende Kapitel „Amante de Fray Anselmo" - Liebhaber des Bruders Anselmo.

Als Santandreu ins Priesterseminar eintritt, fliegt die Geschichte auf, und er wird zur Befragung in den Bischofspalast zitiert. Dass der Bericht hier endet, ist kein Zufall, denn im Seminar erwartet den jungen Priesterschüler eine Steigerung des Erlebten: Vergewaltigung. Sagt Santandreu. Und fügt hinzu, er zweifle, dass er je die Kraft aufbringen wird, den zweiten Teil seiner Autobiografie zu schreiben. Wahrscheinlich gibt es auf Mallorca mehr als einen guten Christen, der täglich darum betet, dass es dabei bleibt. „Radikal und idiotisch"

„Was können wir dazu schon sagen?", seufzt Vikar Teodoro Suau von der Diözese. Die Kirchenführung habe es bislang für richtig befunden, niemals in irgendeiner Weise zu kommentieren, was Santandreu von sich gibt. Die Situation sei „sehr unangenehm", und Suau lässt durchblicken, dass die Diözese alles vermeidet, was die öffentliche Debatte nähren oder eine solche erst auslösen könnte. Zum Beispiel, indem man Santandreu vom Priesteramt suspendiert oder gar exkommuniziert. Niemals sei ein entsprechendes Verfahren in Gang gesetzt worden, versichert Suau: „Santandreu ist Priester."

Das erstaunt nun wirklich, wenn man Revue passieren lässt, was dieser Priester so alles von sich gibt. Er verstößt nicht nur gegen eine Regel der Amtskirche - man hat Mühe, ein Thema zu finden, zu dem Santandreu nicht meilenweit abseits der offiziellen Linie operiert. Dass er offen schwul ist, macht nur den Anfang. Zu seinem saloppen Kommentar im Radioprogramm befragt, zerrupft er das Zölibat als „menschenrechtswidrig", porträtiert die Unterdrückung der Sexualtriebe genauso wie deren hemmungsloses Ausleben als Extrempositionen, die nur Probleme schaffen: „Unterdrückte werden immer zu Unterdrückern."

Damit nicht genug, outet er sich als Agnostiker, denn Gewissheit sei, was Gottes Existenz anlangt, nun einmal nicht möglich, der Atheismus daher genauso „radikal und idiotisch" wie jedes zweifelsfreie Gottesbekenntnis. In den Kirchenchor des undifferenzierten Gotteslobs stimmt er natürlich nicht ein, sondern lässt seiner scharfen Zunge freien Lauf: Es würde ihn sehr freuen, sollte Gott wirklich existieren. „Das muss eine außergewöhnliche Persönlichkeit sein, obwohl dieser Gott mit der Erschaffung der Menschheit furchtbar schlechten Geschmack bewiesen hat." Kurze Pause, dann schnoddert er: „Muss ihm wohl bei einem hysterischen Anfall passiert sein."

Diesen Satz versteht man besser in Ca´n Gazà. Hinter uns bereitet Miguel Angel, seit Jahren freiwilliger Mitarbeiter, auf einem Tablett die Metadon-Rationen der Bewohner vor. Das „Institut gegen den sozialen Ausschluss" - so der offizielle Name der Körperschaft - versucht Menschen, die auf den tiefsten Punkt der Gesellschaft gesunken sind, ihre Würde wiederzugeben. „Wenn du die Ungerechtigkeiten der Welt siehst, gibt es nur zwei Alternativen", sagt Santandreu. „Entweder greifst du nach der Pistole oder agierst mit Liebe."

Santandreu hat sich für den Pfad der Nächstenliebe entschlossen, das spürt man schon am Verhalten der Bewohner von Ca´n Gazà. Er bewundert zuvorderst Jesus Christus, aber eben auch Ché Guevara - „am Tag seiner Ermordung habe ich eine Messe für ihn gelesen" - und Gandhi. Es wird politisch. Wieder hört man die Alarmglocken der Amtskirche schrillen. Die Kirche, sagte er, muss für die Armen da sein und sie ist es nicht. Sie muss Frauen ihre Rechte zugestehen, und sie tut es nicht. Was tut einer wie er in der Kirche? Hochzeit unter freiem Himmel

Ein Schwarz-Weiß-Foto aus dem Jahr 1960: Priester Jaume Santandreu liest seine erste Messe. „Ich betete für den Papst, den Bischof und für Franco." Sendungsbewusst reiste er als Missionar nach Peru. Neben einem tektonischen Erdbeben, das er mit Glück überlebte, suchte ihn dort auch ein spirituelles heim. „Auf die Ungerechtigkeit, die ich in Peru antraf, war ich nicht vorbereitet. Und wenn mir die Klappsmühle erspart blieb, dann deshalb, weil ich auf meine Erkenntnisse reagiert und mich gewandelt habe."

Aus Peru kehrt er als Revoluzzer zurück, ist aber immer noch überzeugter Priester. Die Kirche liegt falsch, nicht ich, sagt Santandreu. Er wird Arbeiterpriester, jobbt in Hotels, beteiligt sich an Streiks, wirkt noch in der Franco-Zeit in der Arbeiterbewegung mit. Bis heute ist er Mitglied der linksnationalistischen Partei Esquerra Unida de Catalunya (ERC).

Im Bischofspalast kommt man kaum mit dem Beide-Augen-Zudrücken nach. Als „Akt der Gnade" erklärt Vikar Suau, dass Santandreu weiter fuhrwerken darf - wenn auch ohne Gemeinde. Dem unbequemen Priester scheint das Etikett eines Diözesanclowns angehängt zu werden. Mit seinen drastischen, aus kirchlicher Sicht wohl auch blasphemischen Formulierungen und einem ausgeprägten Hang zur Selbstdarstellung spielt der Priester-Revoluzzer genau dieser Strategie, wenn sie denn existiert, in die Hände. Doch Santandreu nutzt den Freiraum und macht sich Freunde auch in konservativen Kreisen. Dem kategorischen Nein der Kirche, Trauungen außerhalb geweihter Gotteshäuser zu vollziehen, setzt der Armenpriester als Einziger ein Ja entgegen und kennt dabei keine proletarischen Standesdünkel. „Ich habe die Schwester von Rosa Estarás getraut", erzählt er. „Weil sie es in freier Natur an der Nordküste haben wollte." Kein anderer Priester war dazu bereit. Bei der Familie der gegenwärtigen PP-Chefin der Balearen dürfte Santandreu ein Stein im Brett haben.

Ein Stein im Magen bleibt Santandreu für die Amtskirche. Er knallt sein Buch auf den Tisch und zeigt darauf. „Die Kirche schuldet mir etwas." Hat er je mit einem der anderen Betroffenen gesprochen? Ja, ein einziges Mal, viele Jahre später. Doch habe der ehemalige Mitschüler jede Erörterung des Themas verweigert. Santandreu schüttelt den Kopf. „Ich kann es nicht ertragen, wenn Opfer sexueller Misshandlung sich auch noch schuldig fühlen sollen." Und verweist auf die aktuellen Fälle muslimischer Frauen, die nach ihrer Vergewaltigung selbst am Pranger stünden. „Das ist doch dasselbe."

Als „Encís de minyonia" (Zauber der Kindheit) erschien die katalanische Originalfassung seines Enthüllungsbuches bereits 1996 in einer von der Sparkasse Sa Nostra gesponserten Kleinauflage. Das Skandälchen schwappte nicht auf die Titelseiten über. Von der spanischen Ausgabe erhofft sich Santandreu interessantere Reaktionen als jene der Vereinigung ehemaliger Lasalle-Schüler: Die habe ihn wegen Rufschädigung ausgeschlossen. www.thomasfitzner.com

In der Druckausgabe lesen Sie außerdem:

Schnitzeljagd im alten Jaguar: Oldtimer-Club CCC

Residenten der ersten Stunde: Nancy Grimm

Oliver Kahn auf Mallorca-Kurztrip