Von Holger Weber

Harry Radzyner ist heute 74 Jahre alt. Wenn er von seinem Leben bis zum Jahr 1945 spricht, dann tut er das so nüchtern und sachlich, wie andere Menschen vielleicht von ihrer Lehr- oder Studienzeit erzählen - trotz der Greuel, die er während des Holocaust erlebt hat.

Er war gerade einmal sechs Jahre alt, als die Wehrmacht im September 1939 in Polen einmarschierte und kurze Zeit später seine Heimatstadt Lodz besetzte. Sein Vater besaß dort einen florierenden Baustahlhandel, sein Großvater war der Präsident der mit mehr als 230.000 Mitgliedern zweitgrößten jüdischen Gemeinde in Polen und zudem Parlamentsabgeordneter in Warschau.

Ende 1939 wurde Radzyners Familie ins Ghetto von Lodz deportiert, wo sich die Lebensverhältnisse durch die Ankunft von immer mehr Juden aus Österreich und Böhmen zunehmend verschärften. Radzyner durfte noch ein Jahr zur Schule gehen, dann musste der Achtjährige als Hilfsschlosser arbeiten. Er stellte kleine Bleche her, die auf die Wehrmachtsstiefel geschraubt wurden, damit sich die Absätze der Soldaten nicht so schnell abnutzten. Auch für ein Kind betrug der Arbeitstag im Getto zehn Stunden, sechs Tage die Woche.

Als sich im August 1944 die Rote Armee der Stadt näherte, wurde das Lager aufgelöst. 70.000 Menschen wurden nach Auschwitz deportiert. Darunter auch Radzyner und seine Familie. Doch während die meisten in den Gaskammern des Vernichtungslagers umgebracht wurde, ordnete die SS die Radzyners einem Sondertransport für „rüstungswichtige" ­Arbeiter zu. „In Auschwitz durften wir duschen und wurden neu eingekleidet", erinnert sich Radzyner. Dann ging es zusammen mit 500 weiteren Zwangsarbeitern aus der Fabrik eines Bremer Kaufmannes in Lodz ins Lager nach Stutthof. Dort, in der Nähe des heutigen Gdansk (Danzig) wurden etwa 65.000 Menschen getötet.

Angesichts der regelmäßigen Selektionen war „ das Überleben reines Glücksspiel". Den Kindern hatten die SS-Männer mit roter Farbe die Buchstaben KL auf die Kleidung geschrieben, KL stand für Konzentrationslager. Radzyner sprach schon damals etwas Deutsch, weil er und sein Bruder vor dem Krieg von einem deutschen Kindermädchen aufgezogen worden waren. Dieser Umstand sollte ihnen das Leben retten. Bei einem der berüchtigten Appelle versicherte er einem SS-Mann, dass er bereits erfahren sei bei Arbeitseinsätzen. Daraufhin wurden er und seine Begleiter als arbeitstauglich aussortiert. „Die anderen wurden vergast", sagt Radzyner.

Ein anderes Mal zog ihn ein SS-Mann unvermittelt an der Hand aus einer Gruppe von Kindern heraus. „Das war eigentlich das Todesurteil. Mein Vater dachte, er sehe mich nie mehr wieder". Doch anstatt in die Gaskammer brachte der SS-Mann den kleinen Harry in die Schneiderei des Lagers, wo nach den Maßen Radzyners ein Anzug für den Sohn des SS-Mannes geschneidert wurde. „Ich erinnerte ihn an sein Kind. Er drückte mir nachher Brot und Zwiebeln in die Hand und ließ mich laufen". 32,5 Kilogramm Körpergewicht mit elf Jahren

Radzyner wog mit elf Jahren 32,5 Kilogramm, ein halbes Kilo weniger als mit sechs. Er musste Kisten schleppen, die das Doppelte seines Körpergewichts auf die Waage brachten. Gegenüber den Wachmannschaften gab er sich stets als 14-Jähriger aus, weil es seine Chancen erhöhte, bei den Selektionen als arbeitstauglich eingestuft zu werden. Er litt unter Scharlach und stand dennoch wie die anderen bei den täglichen Appellen drei bis vier Stunden in der Kälte. „Eine Krankmeldung wäre mein sicheres Todesurteil gewesen", sagt er.

Ende November 1944 wurden die Radzyners nach Dresden in eine Munitionsfabrik geschickt. Radzyners Mutter sollte sich nicht von dem langen Fußmarsch von Stutthof nach Dresden erholen. Sie starb an einer schweren Knochen-Tuberkulose. Radzyners Vater Moe beerdigte seine Frau in einer mit ihrem Namen versehenen Kiste. Fünf Jahre später, nach dem Krieg, fand er den Sarg wieder. Seine Ehefrau wurde schließlich auf dem jüdischen Friedhof in Dresden beigesetzt. Die Elbstadt, wo die Familie die Luftangriffe der Alliierten miterlebte, und Theresienstadt waren für die Radzyners die letzten Stationen des Schreckens, bevor sie am 9. Mai 1945 von den Russen befreit wurden.

„Wir liefen zu Fuß zurück nach Lodz und orientierten uns dabei immer an den Bahngleisen", erzählt Radzyner. Doch die alte Heimat sollte nur eine kurze Zwischenstation für die Familie werden. Weil die Kommunisten in Polen die Macht üernahmen, ließ sich Radzyners Vater Moe in Aachen nieder, Harry selbst ging in die USA und studierte in New York Automation und Systembau. Zunächst lebte der Holocaust-Überlebende bei einer Tante, doch nach nur einigen Monaten ging er eigene Wege. „Ich habe es ihr nicht leicht gemacht. Ich war eben ein KZ-Kind und war selbstständig", erzählt er.

Erst sieben Jahre später kehrte er nach Deutschland zurück und stieg in den väterlichen Betrieb ein - obwohl ihn in Amerika bei einer der wichtigsten Technologiefirmen des Landes eine große Karriere erwartet hätte. Eigentlich wollte er seinem Vater nur aushelfen und nach einem Jahr wieder zurückkehren. Doch dann lernte er seine Frau Micheline kennen und ließ sich später in Düsseldorf nieder, wo er in den Schmuckhandel des Vaters einstieg. Das sei ihm nicht schwergefallen. Hass auf die Deutschen, so sagt er, habe er nie verspürt. „Jeder ist für seine Taten im Dritten Reich verantwortlich. Eine Kollektivschuld gibt es nicht".

Stiftung für Toleranz

1993, drei Jahre nach dem Tod seines Vaters, gründete er gemeinsam mit seiner Frau die nach seinem Vater benannte Stiftung Moe Radzyner Brückenschlag, die zur Völkerverständigung und Toleranz beitragen soll und jedes Jahr einen Preis in Höhe von 25.000 Euro an Personen vergibt, die sich dafür einsetzen. 2005 bekam ihn beispielsweise der ehemalige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und heutige Bundesfinanzminister, Peer Steinbrück. In diesem Jahr erhält ihn sein Nachfolger, der amtierende NRW-Ministerpräsident, Jürgen Rüttgers.

1994 avancierte Radzyner zu den Gründervätern der privaten Universität Herzliya in Israel, die heute zu den renommiertesten des Landes gehört. Weil die Düsseldorfer Heinrich-Heine-­Universität etwa zum gleichen Zeitpunkt eine Fakultät für Rechtswissenschaft aufbaute, brachte Radzyner beide Institutionen zusammen. Die Universitäten kooperieren seitdem und unterhalten auch ­einen Studentenaustausch. Anfang dieses Jahres wurde Radzyner für seine Verdienste zum Ehrensenator der Universität Düsseldorf ernannt. „Wir ehren mit Harry Radzyner einen Menschen, der sich der Humanität allgemein und der menschlichen Verständigung verpflichtet fühlt", sagte Rektor Alfons Labisch in seiner Laudatio.

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