Isabel Morey fühlte sich wie eine Außerirdische, als sie im August 1989 erstmals nach Ostberlin kam. Die damals 20-jährige Mallorquinerin hatte nur Geigenspielen im Kopf, und ihr Interesse galt dem Studium mit einer Musikprofessorin, die man ihr wärmstens empfohlen hatte. „Wenn ich mir damals bewusst gewesen wäre, was zu diesem Zeitpunkt los war", erzählt sie, „hätte ich die Idee, in der DDR zu studieren, nie umgesetzt. Oder mit einem Riesenkloß im Magen."

Dieselbe Liebe zur Musik, die Isabel Morey in einem Schlüsselmoment der Geschichte nach Ostberlin verschlug, half ihr in dieser Zeit, die sie anfangs tageweise, später zur Gänze „drüben" verbrachte, die Einsamkeit zu ertragen. Ihr Erleben zwischen August 1989 und Juli 1990 war von einer Atmosphäre geprägt, wie man sie aus Agentenfilmen kennt. „Mich umgab eine Mauer des Schweigens. Niemand sprach mit mir, auch nicht die Studenten der Hochschule Hanns Eisler, an der ich nach einigen Monaten Privatunterricht zu studieren begann. Erst Jahre später erlebte ich meine erste normale Konversation mit diesen Menschen."

Dabei vertraute ihr eine Studentin an, warum damals die Lippen versiegelt waren: Niemand hätte sich eine harmlose Erklärung dafür vorstellen können, warum eine Mallorquinerin – ein Mädchen aus dem sonnigen, friedlichen Mallorca! – in einer Zeit nach Ostberlin kam, als alle nur raus wollten. „Sie trauten mir nicht, hielten mich für eine Spionin. Und weil lange nicht klar war, wie die Sache ausgehen würde, gingen sie als gelernte Ostdeutsche auf Nummer sicher."

Schon ihre Ankunft in Westberlin war unglücklich. „Ein Taxifahrer schnauzte mich an, nur weil ich den Namen meiner Adresse nicht richtig aussprach. Ich konnte ja anfangs nicht mal Deutsch!" Zunächst wohnte sie in Westberlin und ging einmal in der Woche für einen Tag in die kommunistische Stadthälfte. Die Wohnung, in der sie Privatunterricht nahm, lag in Sichtweite des Volkspalastes. „Das Gebäude hatte einen Aufzug und Heizung, meine Lehrerin war offensichtlich eine privilegierte, linientreue Genossin."

So isoliert lebte die Mallorquinerin in den ersten Monaten, dass sie den Mauerfall erst durch einen Anruf ihres Vaters in ihrer Westberliner Wohnung mitbekam., „Er fragte, was ich gerade täte, und ich sagte: Geige spielen natürlich. Und er schrie: Draußen fällt die Bastille, und du übst Geige! Raus auf die Straße, da wird gerade Geschichte gemacht!"

Wie viele andere pilgerte Morey zur Mauer, die vom Volk soeben abgerissen wurde. „Jemand lieh mir einen Hammer, und ich klopfte mir ein paar Stücke ab." In den ersten Tagen war die U-Bahn so überfüllt, dass kein Mensch mehr reinpasste, und die Mallorquinerin musste zu Fuß zum Sprachunterricht wandern. Im Gedächtnis geblieben sind ihr auch die langen Schlangen vor der Bank, wo die DDR-Bürger die 100 D-Mark Begrüßungsgeld abholten.

„Sie gingen damit sofort einkaufen. Es gab in Berlin keine Schokolade und Bananen mehr zu kaufen." Und sie erinnert sich an den Smog­alarm, als die Invasion der Zweitakt-Trabis für dicke Luft sorgte.

Zu dieser Zeit hatte Isabel Morey einen Freund in Basel. Doch die Reise dahin – mit Interrail – war beschwerlich: „Die Züge waren voller Ostdeutschen, die ihre erste Reise unternahmen. Ich musste von Berlin bis Basel stehen."

Als Morey dann gegen den Strom schwimmend ihren Wohnsitz für einige Monate nach Ostberlin verlegte, brach der Wende-Alltag mit voller Wucht auf sie herein. Einem Kontakt ihrer Lehrerin verdankte sie im März 1990 eine Wohnung in Pankow, Isabel Morey kam gratis dort unter, „denn das Geld war nach dem Mauerfall nichts mehr wert". Die Nachbarn waren ebenso misstrauisch wie die Studenten. „Sie sprachen nie mit mir, nicht einmal, wenn ich fragte, ob mein Üben mit der Geige störte. Als ich im Juli 1990 auszog, kamen sie auf den Gang heraus und starrten mich nur an."

Der eigentümlichen Ästhetik des Ostens konnte die Insulanerin durchaus etwas abgewinnen. „Die Konservendosen sahen irgendwie aus wie Spielzeug, ich legte eine Sammlung an." Überhaupt hätte sie sich trotz ihrer geradezu traumatischen Erfahrungen gewünscht, dass mehr von Ostdeutschland erhalten geblieben wäre – auch mehr von der Mauer, „das war ein Stück Geschichte".

Von ihren Studienkollegen in der Hanns-Eisler-Schule erfuhr sie später, unter welch brutalem Druck die Auslese der Musiktalente stattgefunden hatte. „Im Internat sei es immer wieder zu Selbstmorden gekommen." Besonders schockiert war die passionierte Musikerin vom Geständnis einer früheren Mitschülerin: Diese hätte an ihrem Spiel nur deshalb wie besessen gearbeitet, weil sie darin ihre einzige Chance sah, aus der DDR rauszukommen.

In der Printausgabe lesen Sie außerdem

- Eine gelungene Premiere: Deutschsprachige Nacht des Weins

- Wenn das Wochenende 7 Tage hat: Herb Stumpf zum Thema Ruhestand