Mit nur 41 Jahren wurde ­Christiane Tietz auf einen Lehrstuhl für systematische Theologie und Sozialethik an der Universität Mainz berufen. Das war 2008. Im gleichen Jahr wurde sie Vorsitzende der Bonhoeffer-Gesellschaft. Mit der MZ sprach die evangelische Theologin am Rande eines vom Residententreff organisierten Vortrags im Centro Cultural Sa Nostra in Palma.

Woher kam Ihr Interesse an Theologie – lag das in der Familie?

Eher nicht. Aber prägend war sicher, dass es in meiner Gemeinde eine sehr gute Jugendarbeit gab. Und ich hatte gute Religionslehrer. Eigentlich wollte ich auch selbst Lehrerin werden.

Jetzt sind Sie sogar Professorin. Was reizt Sie an Ihrem Beruf?

Es gibt viele Missverständnisse in der Auslegung des christlichen Glaubens. Menschen quälen sich ihr ganzes Leben lang, weil sie durch Traditionen und Erzählungen falsche Vorstellungen haben. Ich glaube, hier kann ich viel Sinnvolles machen.

Was sind die gängigen Vorstellungen, wenn es um das Thema Gott und Krankheit geht?

Ein typischer Ausruf von Gläubigen und Ungläubigen, wenn Menschen krank sind, lautet: Wie kann Gott das zulassen?

Welche Antwort geben Sie?

Es gibt nicht wirklich eine Antwort. Aber Gott ist nicht die Ursache, Krankheit ist also nicht von Gott geschickt. Viele verstehen ihre Krankheit als Wirken Gottes. Weil sie glauben, dass alles, was auf der Welt passiert, von ihm kommt. Das Gegenteil ist der Fall: Er leidet mit den Kranken. So wie er in Jesus selbst gelitten hat. Wir gehen davon aus, dass Gott den Schmerz des Menschen teilt. Aber wir können nicht davon ausgehen, dass er

die Welt in allen Kleinigkeiten lenkt.

Viele sehen Krankheit auch als Prüfung, damit Menschen Glauben und Vertrauen lernen.

Auch das ist falsch. Glaube wird geschenkt, dafür muss man nicht erst etwas machen. Der Mensch muss auch nicht ständig auf die Probe gestellt werden. Dass dazu die Krankheit geschickt wurde, ist ein ungesundes Verständnis der Beziehung zwischen Gott und Mensch.

Hat Krankheit überhaupt einen Sinn?

Krankheit ist natürlich eine Irritation des Gottesvertrauens. Denn Gott gilt als Quelle des Lebens und der Kraft – wie passt dies damit zusammen, dass ich so gar nicht kraftvoll bin? In harmloserer Form kann Krankheit durchaus eine Hilfe sein, um zur Ruhe zu kommen, sich zu besinnen. Es kann ja ganz gut tun, mit einem Schnupfen im Bett zu liegen. In solch einer Situation kann Krankheit als Ausdruck der Fürsorge Gottes empfunden werden. Rückblickend kann es sein, dass man merkt, man hat in solchen Situationen etwas gelernt. Doch es gibt auch Krankheiten, die den Betroffenen zermürben.

Trotzdem sagen Sie, dass selbst solche Patienten nicht von Gott allein gelassen werden.

Weil Leiden, Elend und Not Gott nicht fremd sind. Er ist gerade den Leidenden nahe. Denn er hat selbst am Kreuz gelitten. Wenn nicht in Heilung, so spüren Kranke die Nähe Gottes manchmal in anderer Form. Etwa in der Fürsorge durch Freunde und Familie.

Was ist mit dem alten Glauben, Krankheit sei eine Strafe?

Krankheit als Strafe für Sünde hat mit dem christlichen Gott nichts zu tun. Aus christlicher Perspektive – das ist die Pointe der sogenannten Rechtfertigungslehre – geht Gott gerade nicht so mit den Menschen um, wie dieser es verdient. Sondern Gott ist dem Menschen gnädig und mitleidvoll zugewandt. Unser Denken aber ist geprägt von der Annahme: Wenn wir etwas Gutes tun, werden wir belohnt. Tun wir etwas Schlechtes, werden wir bestraft.

Ist das nicht so?

Nein. Es ist ein naiver Erklärungsversuch. Die klassische Frage nach Gerechtigkeit: Warum geht es mir so schlecht, obwohl ich so fromm bin?, muss dadurch korrigiert werden, dass man Gutes nicht deshalb tut, weil man Belohnung erwartet oder Angst vor Strafe hat, sondern aus Liebe zum anderen.

Immer mehr Menschen schmieden sich ihre eigene Religion statt Trost im Gebet zu suchen. Oder suchen Heilsversprechen in Büchern, die die Erfüllung aller Wünsche versprechen. Sogar unter Berufung auf Gott. Was halten Sie davon?

Das sehe ich ganz kritisch. Das wirkt fromm, ist es aber nicht. Weil Gott selbst dabei gar keine Rolle spielt, sondern benutzt wird. Gott ist keine Wunscherfüllungsmaschine.

Aber im Neuen Testament heißt es: Bittet, so wird euch gegeben?

Ja, und man geht davon aus, dass Jesus das selbst so gesagt hat. Aber Theologen haben Schwierigkeiten mit der Radikalität dieses Verses. Für manche bezieht sich dieses Bitten nur auf geistliche Fragen, nicht auf alles. Schon gar nicht auf Materielles. Luther schien hingegen davon überzeugt gewesen zu sein. Für ihn war Gott der Erhörer von Bitten. Allerdings: Man soll Gott seine Not vorlegen, aber nicht die Weise, wie er uns erhört.

Beten Sie eigentlich selbst?

Nicht genug. Aber wenn ich bete, gibt es mir Halt.

In der Printausgabe vom 24. Juni (Nummer 529) lesen Sie außerdem im Ressort Gesellschaft:

- Ein Abend unter Freunden: Die MZ-Party im Pueblo Español

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