Eigentlich wollte María Riera nur den letzten Wunsch ihrer Tochter erfüllen. Deshalb klinkte sich die Mallorquinerin in den Twitter-Account Taube08 ein und tippte am Freitag (4.11.) die schrecklichste Nachricht, die für eine Mutter vorstellbar ist: „Ich bin María Riera, die Mutter von María. Ihrem Wunsch entsprechend nehme ich das Schwerste der Welt auf mich, nämlich euch mitzuteilen, dass sie in der vergangenen Nacht gestorben ist. Danke an alle."

Was die 49-Jährige nicht ahnte: Die zwangsläufig knapp formulierte Nachricht, ursprünglich für den großteils virtuellen Bekanntenkreis der mit nur 30 Jahren an Krebs verstorbenen Tochter María J. Mann gedacht, setzte eine Welle der Anteilnahme in Gang, der sich innerhalb weniger Tage wildfremde Menschen aus der ganzen Welt anschlossen. Riera und der deutsche Vater von María entdeckten dabei auch einen neuen Weg, mit dem schrecklichen Verlust umzugehen. Tag und Nacht antwortete die Frau auf jede einzelne der mehr als tausend Botschaften und kam zur Erkenntnis: „In Wahrheit ist das wie eine Therapie. In jedem Tweet steckt ein Stück von María."

Das Phänomen zog rasch die Aufmerksamkeit vor allem spanischsprachiger Medien auf sich, dank Internet bildete sich eine globale Trauergemeinde. Schon am Samstag (5.11.) erhielt María eine Botschaft aus Peru: „Wir haben in der Zeitung über euch erfahren … was du tust, ist sehr schön."

Die Geschichte der Tochter, die im Angesicht des Todes die „Betreuung" ihrer rund 250 Twitter-Bekannten der Mutter anvertraut, trifft einen Nerv. Der lange Abschied von Taube08 zeigt, welchen Unterschied die maximal 140 Zeichen langen Botschaften für ein am Boden zerstörtes Elternpaar bedeuten können.

Doch obwohl die Twitter-Trauer quasi vor den Augen der Öffentlichkeit betrieben wurde – zahllose Tweets sind für jeden Internetnutzer einsehbar –, zogen die Mutter und der Bekanntenkreis eine deutliche Linie. So offen die Teilnehmer dieses virtuellen Trauer-Meetings über ihre Gefühle und das Wesen der Verstorbenen sprachen, so sparsam gingen sie mit konkreten Informationen um. Journalisten, die sich in den Strom der Kondolenzen einordneten, um mit der Mutter Kontakt aufzunehmen und mehr zu erfahren, wurden höflich, aber bestimmt abgewiesen. „Die Familie will daraus keinen Medienzirkus machen", teilte ein enger Bekannter der Verstorbenen mit.

Doch María Riera und ihr Gefährte wandelten auf einem schmalen Grat: Quasi in Echtzeit ließen sie die Öffentlichkeit an intimsten Momenten teilhaben. „In einer Stunde werden wir zur Leichenhalle gehen, um uns von Marías nun leblosem Körper endgültig zu verabschieden", schrieb María. „Wir werden eure Tweets weiterhin beantworten."

Damit setzten sich die beiden auch den im Internet üblichen Rüpeleien aus, die nicht einmal vor dem virtuellen Trauerzug haltmachten. Ein „Peruanista" etwa argwöhnte, das Ganze sei eine Show: „Im Internet glaube ich nichts, solange ich keine Beweise sehe."

Selbst auf Tweets wie diese – noch einer der harmloseren der Kategorie gefühllos bis beleidigend – antwortete María: „Es steht Ihnen frei zu glauben, was Sie wollen, und uns steht es frei, das Andenken unserer Tochter zu ehren."

Auch kommerziell motivierte Botschaften kamen herein. So richtete der Betreiber einer Internetseite für Nachrufe gratis eine Traueranzeige für María J. Mann ein, „die 100 Jahre lang geschaltet bleiben wird." Ob den Eltern mit dieser kühnen Behauptung Vertrauen in die Zukunft gegeben wird, bleibt dahingestellt.

Dass die große Mehrzahl der Tweets echte Anteilnahme vermittelte, ist nicht nur auf die ungewöhnliche Aktion der Mutter, sondern auch auf die Persönlichkeit der Verstorbenen zurückzuführen. Gespräche mit anderen virtuellen Bekanntschaften von María J. Mann weisen darauf hin, dass die junge Frau über Twitter einen Weg fand, mit ihrer Erkrankung umzugehen. Sie suchte Zuneigung und Anteilnahme, indem sie selbst verschwenderisch damit umging.

„María war praktisch jederzeit erreichbar, sie hat immer geantwortet", erzählt ein 44-jähriger Koch aus Portopetro. „Einmal setzte ich auf dem Weg zur Frühschicht um halb drei Uhr morgens einen Tweet in die Welt, und prompt twitterte sie zurück."

Wie viele andere hat er María J. Mann nie persönlich kennengelernt, war aber ein Mitglied ihres inneren Twitter-Zirkels, mit dem sie auch vertrauliche Botschaften austauschte, also Tweets, die nicht öffentlich einsehbar sind.

Offenbar baute die 30-Jährige, die in Berlin lebte und sich dort auch behandeln ließ, im letzten Jahr ihres Lebens einen Großteil ihres Netzwerks auf. Trotz Twitter-Kürze blieb der Austausch nicht oberflächlich: Die Botschaften der hinterbliebenen Gemeinde gehen unter die Haut.

Die Vorsorge von María J. Mann reichte jedoch viel weiter. „Sie hat ihre Angelegenheiten in Ordnung gebracht", erzählt die Mutter. Die junge Frau bereitete sich systematisch auf das Leben und aufs Sterben vor. Sie kaufte Flugtickets nach New York, während sie bereits die Botschaften verfasste, die posthum an Freunde und Bekannte gehen sollten.

Mit ihrer Erkrankung sei sie diskret umgegangen, ohne Wehleidigkeit. „Als sie sich im Frühjahr einen Monat lang nicht meldete, fragte ich, was los war", erzählt der Koch aus Portopetro. „Und erhielt danach eine vertrauliche Botschaft – sie habe Krebs und hätte eine Behandlung über sich ergehen lassen müssen."

Damit war das Thema aber erledigt. Marías Hauptsorge galt ihren Eltern. Doch selbst wenn die Einschaltung des Twitter-Kreises eine durchdachte Strategie war – der Erfolg hätte selbst deren Urheberin überrascht. María Riera, die eigentlich schon am Samstag (5.11.) laut darüber nachdachte, den Twitter-Account noch am selben Tag zu schließen, „weil das heute schon sehr schwer war", machte trotzdem weiter. Später berichtete sie, dass die virtuelle Anteilnahme unendlich geholfen habe, die schwersten Momente zu überstehen. „Ich sitze neben Marías Vater, wir lesen eure Tweets, wir sehen einander an und wir können nicht anders als zu weinen."

Unter den Unbekannten, die sich melden, sind einige, die ebenfalls nahe Familienangehörige verloren haben. Der Trost per Twitter ist zeitweise in beide Richtungen unterwegs.

Bis Dienstag (8.11.) gegen Mitternacht. Da verabschiedet sich Riera „im Stil meiner Tochter: Gute Nacht und viele, viele Küsse."