Tabus sind per se stark und langlebig. Daran zu rütteln, hat zuweilen zur Folge, dass das Tabu erst recht bestehen bleibt. Was König Juan Carlos von Spanien angeht, so ist davon auszugehen, dass das neue Buch der Journalistin Pilar Urbano ("El precio del trono", Planeta, 28,50 Euro), das hauptsächlich von dunklen Punkten in dessen Leben handelt, vielleicht eine Handvoll Staub aufwirbelt, aber die Monarchie nicht einmal ansatzweise ins Wanken bringt. Dies wäre möglicherweise in anderen Ländern durchaus der Fall, wenn eines Tages ganz offen und für alle ausgesprochen würde, dass die Symbolfigur des Staates ein Menschenleben auf dem Gewissen hat.

Pilar Urbano tut genau dies. In dem Wälzer und auch in einem in "El Mundo" erschienen Vorabdruck beschreibt sie kurz ein Vorkommnis, das Juan Carlos mit Sicherheit nie wieder losgelassen hat: die Tötung des 14-jährigen jüngeren Bruders Alfons auf dem Landsitz der Bourbonen im portugiesischen Ort Estoril am 29. März 1956. Er starb durch einen Schuss, der sich, so die Darstellung von Urbano, offenbar beim Spiel aus einer Long-Star-Pistole in der Hand des damals gerade erst 18-jährigen Juan Carlos gelöst hatte. Der junge Adelsmann hatte gedacht, dass sich in der Waffe keine Kugel befindet, auf seinen Bruder gezielt und abgedrückt. Das einzige Geschoss im Pistolenlauf traf Alfonsito, wie er in der Familie genannt wurde, mitten ins Gesicht.

Das Verhängnis hatte am Abend des nämlichen Gründonnerstags seinen Lauf genommen: Juan Carlos´ Vater Don Juan war im zweiten Stock ins Briefeschreiben vertieft. Im Zimmer gegenüber palaverte Mutter María de la Mercedes bei halb geöffneter Tür mit einer Freundin, María Arnús, die zum Abendessen bleiben sollte. Ein Stockwerk darüber mühte sich Juan Carlos mit Schularbeiten ab. Plötzlich und unerwartet stürzte der jüngere Bruder Alfonsito in das Zimmer des späteren Königs. Er war aufgeregt und in Spiellaune. Er tat so, also würde er eine Maschinenpistole bedienen. "Rrrattatatatá! Rrratattatatá!" Er zielte auf Juan Carlos, verließ wieder das Zimmer, sprang erneut hinein, ging in Deckung - "Feigling, verteidige dich!", brüllte er. Juan Carlos zog die Schublade seines Schreibtischs auf und holte die Long-Star-Pistole heraus. "Kapituliere, du bist ein toter Mann!", rief Alfonsito seinem Bruder zu. "Der tote Mann bist du!", erwiderte Juan Carlos, zielte mit der Waffe auf Alfonsito - und drückte ab.

So die Schilderung von Pilar Urbano. Juan Carlos habe den Schuss nicht gehört, schreibt die Journalistin. Wollte er ihn nicht gehört haben? Der zukünftige König sah seinen immer schwächer werdenden jüngeren Bruder im Blut liegen, stürzte die Treppe hinunter, informierte seinen Vater. Der soll noch lebensrettende Maßnahmen versucht haben. Aber es nützte alles nichts. Um 20.30 Uhr wurde Alfonsitos Tod festgestellt.

Der in eine spanische Flagge gehüllte Sarg wurde im Landsitz aufgebahrt. Don Juan habe Juan Carlos vor dem Leichnam seines Bruders einen Schwur abverlangt: "Schwör mir, dass du es nicht absichtlich getan hast!"

Alfons wurde am 31. März 1956 zu Grabe getragen. Don Juan führte den kleinen Trauerzug aus Adeligen, Diplomaten und Militärs an. Zwei Schritte hinter ihm ging der am Boden zerstörte Juan Carlos. Nach der Beerdigung wandte sich der Vater an den Sohn: "Zieh deine Uniform nicht aus. Du kehrst an die Militärakademie in Zaragoza zurück."

Die Tragödie, die in einem freien Land, zumal in der heutigen Zeit, mit Sicherheit von den Medien bis über die Schmerzgrenze hinaus ausgebreitet worden wäre, wurde in dem damals vom faschistischen Diktator Francisco Franco gelenkten Spanien unter den Teppich gekehrt. Der im Bürgerkrieg (1936-39) an die Macht gekommene Diktator konnte auf die Mithilfe des ähnlich gestrickten portugiesischen Regenten António de Oliveira Salazar zählen. Es blieb denn also bei einem knappen Kommuniqué, in dem unbestimmt von einem "Unfall" die Rede war, der sich beim Reinigen einer Pistole ereignet habe. "Es gab keine Autopsie und auch keine polizeiliche Untersuchung", sagt Pilar Urbano.

Der Tod brach den Eltern das Herz - und schwächte die Verhandlungsposition von Don Juan gegenüber Franco: "Er weiß, dass ich nach dem Tod von Alfonsito nur noch auf einem Bein stehe", soll der ins Exil verbannte König einem Freund einmal gebeichtet haben.

Der Vorfall wurde kaum je noch einmal öffentlich thematisiert. Das Volk "flüsterte", wie Pilar Urbano es ausdrückt, "aber das war´s dann auch". Nachdem er anfangs sogar in ein Kloster gehen wollte, gelang es Juan Carlos irgendwie, mit seiner Schuld zurechtzukommen. "Offensichtlich verfügen die Bourbonen über ein positives Gen, das es Juan Carlos ermöglichte, seinen Weg zu gehen." Der Gleiche sei er freilich nicht geblieben, sagt die Kennerin der Königsfamilie. "Das Auftreten des Königs ist fröhlich, seine Seele aber traurig."

Im E-Paper sowie in der Printausgabe vom 8. Dezember (Nummer 605) lesen Sie außerdem:

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