Als er ihr am 17. August, kurz vor sechs Uhr abends, auf der Treppe vor der mallorquinischen Sozialbehörde in Palma gegenüberstand, brach Katy Escandell Martínez in Tränen aus. Dann fiel sie ihrem Bruder Andreu Martorell Perelló um den Hals - das erste Mal seit 36 Jahren, seit er geboren und zwei Tage später an seine Adoptiveltern übergeben wurde.

Die Mutter der beiden sah sich damals nicht in der Lage, ein Kind zu ernähren. Während die siebenjährige Katy bei ihrer Oma aufwuchs, sollte Andreu vorübergehend in ein Kinderheim kommen. Als sie ihr Baby acht Monate später zu sich holen wollte, war es weg. „Dabei hat meine Mutter nie eingewilligt, Andreu zur Adoption freizugeben", erzählt Katy. „Aber das war zu dieser Zeit normal, und nicht mal illegal."

Heutzutage nennt man es Kindesraub. Schätzungen der Opfer-Organisation Añadir zufolge gibt es spanien­weit an die 300.000 niños robados (gestohlene Kinder), die ihren leiblichen Müttern während der Franco-Zeit, aber auch noch Jahre später, weggenommen und danach „verkauft" wurden. Lange Zeit wurde der Mantel des Schweigens über die Machenschaften gehüllt, in die nicht selten Priester, Nonnen und Ärzte verstrickt waren.

Doch damit ist es auf Mallorca spätestens seit 2011 vorbei, als Paloma Alcahuz den Verein „Origens" (Herkunft) ins Leben rief. Die 37-jährige Vorsitzende des Vereins wurde in Palma geboren - als eineiiger Zwilling. Ihre Schwester starb einen Tag nach der Geburt. Das jedenfalls sagte man Palomas Vater. „Dabei hieß es im Untersuchungs­protokoll, dass ich diejenige in kritischem Zustand war und meine Schwester wohlauf."

Die Eltern wurden dazu überredet, den toten Fötus für wissenschaftliche Zwecke obduzieren zu lassen - ohne den Leichnam jemals zu Gesicht zu bekommen. Irgendwie hatte Paloma schon immer den Verdacht gehabt, dass ihre Schwester nicht tot war. Doch erst vor drei Jahren, als sie im spanischen Fernsehen eine Frau sah, die ihr aufs Haar glich, machte sie sich auf die Suche.

Und die war mühsam. Acht Mal forderte sie die Patientenakte ihrer Schwester an. Vergeblich. Sie sei wohl verloren gegangen, vertröstete

man sie. In der Akte ihrer Mutter wird schlichtweg unterschlagen, dass sie am 16. August 1975 noch ein zweites Mädchen zur Welt gebracht hat. Im April 2011 erstattete Paloma zum zweiten Mal Anzeige, nachdem die erste im Sande verlaufen war. „Aber jetzt tut sich endlich etwas."

Etwa 30 weitere Anzeigen - von Kindern, Eltern, Geschwistern - beschäftigen Mallorcas Polizei mittlerweile. „Origens" unterstützt die Betroffenen bei den erforderlichen Schritten. „Jeder Fall ist anders, doch gibt es Gemeinsamkeiten: Den Eltern wurde gesagt, das Neugeborene sei zu schwach gewesen, man wolle ihnen den Anblick der Leiche ersparen. Die Jahre später eingeforderten Dokumente waren nicht mehr auffindbar oder bereits zerstört, Geburtsurkunden erweisen sich als falsch.

Vicente Martínez Gil aus Valencia etwa taucht in allen Unterlagen als leiblicher Sohn seiner Eltern auf. Erst vor eineinhalb Jahren belauschte er auf einer Familienfeier zufällig ein Gespräch und erfuhr, dass er adoptiert wurde. „Mein ganzes Leben ist eine Lüge, ich bin ein falscher Sohn", sagt der heute 40-Jährige, der laut Urkunde am 14. März 1972 in einer von Nonnen geleiteten Klinik in Valencia geboren wurde. Die minderjährige Mutter wollte das Baby nicht behalten, erzählten ihm seine Eltern widerwillig, als er sie zur Rede stellte. Nachts sei de Anruf gekommen,„das Kind sei da". Ein Pfarrer, der sich heute an nichts mehr erinnern will, übergab es ihnen - und erhielt im Gegenzug einen Scheck über 100.000 Peseten (rund 600 Euro).

Vicente ist überzeugt davon, dass er in Wahrheit auf Mallorca geboren und noch als Säugling aufs Festland gebracht wurde. „Viele bebés robados kamen damals von den Inseln." Er hat deshalb nicht nur Anzeige erstattet, sondern sich auch an Paloma Alcahuz gewandt.

Die hat eine Kartei mit inzwischen über 40 Suchenden angelegt. Und es werden jede Woche mehr. Die etwa ein Dutzend Mitarbeiter von „Origens" helfen beim Aufspüren von Dokumenten, durchforsten mit Angehörigen die Archive von Kliniken oder Friedhöfen. Auch Katy hat ihren Bruder mit Hilfe des Vereins gefunden. Es ist der dritte gelöste Fall, der durch die Medien ging. „In Wirklichkeit sind es bereits weitaus mehr", sagt Maria Luisa Servera, Leiterin der Adoptionsbehörde in Mallorcas Inselrat, die Familien nicht nur bei der Suche unterstützt. „Wir geben psychologischen Beistand und helfen den Betroffenen, ihre Geschichte zu verarbeiten."

Damit sind nun auch Katy und Andreu beschäftigt. Er arbeitet als Maurer und wohnt in Muro, einem Dorf im Nordosten der Insel, wo er auch aufgewachsen ist. „Ich bin jahrelang ahnungslos an seinem Haus vorbeigefahren", erzählt Katy, die als Busfahrerin Touristen über die Insel chauffiert. Die palmesana ist extrovertiert, Andreu hingegen wirkt schüchtern und besonnen. „Mein Leben hätte ganz anders verlaufen können", sagt er in breitem mallorquí. Auch Katy muss das Geschehen erst verdauen: „Er sagt zu einer Frau Mama, die für mich eine Fremde ist."

Die Geschwister wollen nun nach und nach das Leben des anderen kennenlernen. Katy hat zwei erwachsene Kinder, Andreu eine dreijährige Tochter. Seit jenem 17. August telefonieren sie täglich. „Uns fehlen 36 Jahre, aber wir haben hoffentlich noch viel Zeit."