Claudia Pechstein strotzt wieder vor Kraft. Sie scheint ihre bisher schwerste Lebenskrise hinter sich gelassen zu haben. Vor gut vier Jahren stand die Eisschnellläuferin und erfolgreichste Winter-Olym­pionikin aller Zeiten vor einem Scherbenhaufen. Die Internationale Eislauf-Union hatte die Berlinerin aufgrund erhöhter Retikulo­zyten-Werte im Blut für zwei Jahre gesperrt. Es folgten Nervenzusammenbrüche und Selbstmordgedanken. Zahlreiche medizinische Gutachten erklärten den erhöhten Wert der Retikulozyten - das sind frische rote Blutkörper - mit einer Erbkrankheit. Die Juristen glaubten ihr nicht, die meisten ­Mediziner schon. Die Öffentlichkeit weiß bis heute nicht so genau, woran sie sich halten soll. Alle Anschuldigungen sowie die Sperre gründen sich auf einen sogenannten indirekten Doping-Beweis, ein positives Testergebnis liegt nicht vor. Die MZ trifft die 41-Jährige auf der Radbahn in Ses Salines, wo sie mit den Teilnehmern ihres Nordic Skating-Kurses, den sie im Robinson Club Cala Serena gibt, Geschicklichkeitsübungen macht. Zwischendurch gibt sie Anweisungen. Eigentlich will sie gar nicht von der Doping-Sperre erzählen, doch dann fängt sie trotzdem an. Die Wunden sitzen zu tief.

Sie haben vor drei Wochen mit 41 Jahren bei der Eisschnelllauf-WM in Sotschi zwei Bronze­medaillen über 3.000 und über 5.000 Meter gewonnen. Wie geht das?

Sie sehen doch, was ich noch für straffe Beine habe! Ich bin gut in Form. Außerdem kommt es bei den längeren Distanzen ja eher auf die Ausdauer an als auf Antrittsschnellig­keit. Und Ausdauer habe ich noch genügend.

Haben Sie mit den neuerlichen Erfolgen einen Schlussstrich unter Ihre Sperre gezogen?

Nein, das geht noch nicht. Dazu habe ich zu sehr gelitten. Auch die Schadensersatzklagen gegen die Internationale Eislaufunion (ISU) und den deutschen Verband laufen ja noch. Außerdem muss ich mich ständig Doping-Kontrollen unterziehen. Ich glaube, ich bin zurzeit die Sportlerin mit den meisten Kontrollen. Mittlerweile bin ich in meiner Karriere schon 470 Mal getestet worden. Schauen Sie mal meinen Unterarm an, die eine Vene ist schon komplett zerstochen (die Vene in der Armbeuge hat tatsächlich Ähnlichkeiten mit einem Blutbeutel).

Wieso haben Sie nicht irgendwann einfach aufgegeben?

Ich glaube an Gerechtigkeit. Inzwischen ist medizinisch nachgewiesen, dass meine erhöhten Retikulozyten-Werte von meinem Vater vererbt sind. Selbst der ISU-Gutachter hat mittlerweile bestätigt, dass meine Schwankungen bei den Blutwerten nicht durch Doping, sondern durch eine vererbte Anomalie hervorgerufen werden.

Aber Ihre Werte waren auffällig und es gab lange Zeit keine Erklärung. Konnten Sie das Misstrauen der Öffentlichkeit nachvollziehen?

Grundsätzlich kann ich verstehen, dass die Menschen inzwischen skeptisch auf derartige Vorfälle reagieren. Dazu gab es zu viele positive Doping-Tests. Die Leute stempeln dich schnell ab und sagen: ´Ach, schau her, schon wieder ein Doping-Fall. War ja eigentlich klar.´ Aber hier sollte jeder darauf achten, nicht pauschal zu urteilen, sondern jeden Fall einzeln zu betrachten.

In den Medien geben Sie sich stark. Aber in Ihrer Biographie heißt es, dass Sie an Selbstmord gedacht haben.

Als die Doping-Anklage im März 2009 kam, war ich am Ende. Ich wollte mir das Leben nehmen. Ich sah keinen anderen Ausweg. Sponsoren haben sich von mir abgewandt. Die Anklage hatte mir alles genommen: meine Olympia-Träume für 2010, meine finanzielle Sicherheit, mein früheres Leben. In so einem Moment fühlst du dich ohnmächtig.

Sie haben zwischenzeitlich einen Kampf an mehreren Fronten geführt: Gegen die Retikulo­zytenwerte, gegen die Sportgerichte und gegen die Medien. Woraus haben Sie Ihre Motivation geschöpft?

Für mich stand immer fest: Ich habe nicht gedopt. Außerdem habe ich viel Unterstützung erhalten. Sportlerkollegen, die mich ermuntert haben, weiterzumachen. Fans, die mir liebe Briefe und Mails geschrieben haben. Und schließlich auch ­Matthias Große, meine große Liebe. Ihm ist es zu verdanken, dass ich jetzt wieder da bin. Auch wenn zwischendurch immer noch Tränen fließen, wenn ich an die Zeit der Sperre denke oder mit Nachwehen davon konfrontiert werde.

Bereits vor zwei Jahren haben Sie sich mit einem Paukenschlag zurückgemeldet. Direkt nach Ablauf der zweijährigen Sperre holten sie zwei Bronzemedaillen bei der WM in Inzell. Damit haben Sie gleich wieder Zweifel gesät.

Ich war ja in den zwei Jahren der Sperre nicht untätig, sondern habe gut trainiert und mich fit gehalten. Außerdem hat mich die Sperre stärker gemacht. Wenn es die Retikulo­zyten-Geschichte nicht gegeben hätte, hätte ich schon längst meine Karriere beendet. Aber ich wollte es allen noch einmal beweisen.

Man könnte auch sagen, Sie sind extrem ehrgeizig. Für Ihre Teamkolleginnen soll das nicht immer angenehm sein. Die ein oder andere leidet unter Ihren Ansprüchen.

Ich war schon als Kind sehr ehrgeizig. Ehrgeiz ist für mich eine Grundvoraussetzung im Leben. Wer damit nicht zurecht kommt, soll erst einmal schneller laufen als ich.

Es gibt auch Ärger im Team, weil Sie Ihren Freund mit in die Kabine bringen ?

In die Kabine kommt er definitiv nicht. Aber zu den Läufen begleitet er mich schon. Er ist akkreditiert, und deshalb gibt es da nicht das geringste Problem. Schließlich ist er verantwortlich für meinen Erfolg. Einige meiner Teamkollegen haben ihn deshalb auch angesprochen. Die finden es toll, dass er mich immer begleitet. Es ist doch normal, dass es auch Leute gibt, die das stört. Man kann sich nicht immer mit

allen gut verstehen.

Bei Olympia soll er dann auch wieder dabei sein. Die Spiele in Sotschi wollen Sie im kommenden Jahr noch mitnehmen?

Das ist das Ziel. Ich muss mich natürlich erst einmal qualifizieren. Aber wenn das gelingt, will ich in Sotschi meine zehnte Olympia-Medaille holen. Die Farbe ist mir da egal. Ich würde auch eine Bronzemedaille nehmen.

Das Camp hier auf Mallorca ist so etwas wie ein verdienter Urlaub nach der Saison?

Ja, im Sommer trainiere ich auf ­Inline-Skates hauptsächlich Kraft und Ausdauer. Die Saison war anstrengend, ich spüre sie noch in den Beinen. Aber der Kurs hier hilft, auch abzuschalten. Wir unternehmen viele ausgedehnte Touren. Wir sind hier so etwas wie ein harter Kern. Die meisten kommen schon jahrelang zum Training hierher.

Im E-Paper sowie in der Printausgabe vom 18. April (Nummer 676) lesen Sie außerdem:

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