Naida Abanovich schlingt ihren Wollschal etwas fester um die Schultern. Ein kräftiger Wind weht ihr Haarsträhnen ins Gesicht. „Kälte, Regen, Wind, ich singe", sagt die Weißrussin. Wenn sie über Musik spricht, verliert ihr Blick seine Melancholie, und ihre Augen leuchten freudig. Seit zwölf Jahren lebt die 63-Jährige in Palma. Seit zehn Jahren klingt ihr Sopran jeden Tag um die Mittagszeit über die Plaça Major oder den Carrer San Miguel. Wer diese Gegend von Palma kennt, kennt auch Naida Abanovich, die Opernsängerin.

Sie singt Arien von Puccini oder das „Ave Maria" von Schubert. Mikrofone mag sie nicht, „weil sie die Stimme ändern", also singt sie ohne. Die Begleitmusik kommt vom Band, 15 Euro zahlt sie pro Aufnahme. Ihre eigenen CDs verkauft sie für zehn Euro. Das Foto auf dem Cover ist streifig verblasst und zeigt eine jüngere, auffallend attraktive Naida.

Die Liste im Inlay ist sorgfältig von Hand geschrieben. Dort findet sich auch eines ihrer Lieblingsstücke: „Ebben? Ne andrò lontana" aus Alfredo Catalanis „La Wally". Auf der Straße singt Naida Abanovich die Arie nicht. „Dafür braucht es Akustik und Stille, keinen Presslufthammer hier und ein Akkordeon dort", sagt sie.

Die erste Zeile aus der Arie ist wie aus ihrem Leben gegriffen: „Na gut, ich werde weit weggehen." Naida Abanovich hat sich mehrfach entschieden, weit wegzugehen.

Bevor sie zur Straßenmusikantin im Süden wurde, sang die Sopranistin auf den großen Bühnen von Minsk und Baku. In der aserbaidschanischen Hauptstadt besuchte sie als junge Frau das Konservatorium. Dort lernte sie auch ihren Mann kennen, ebenfalls Sänger und armenischer Christ. Fast 20 Jahre lebte und arbeitete das Paar in Baku. Als Ende der 80er-Jahre der Konflikt um Bergkarabach erneut aufflammte und ein Pogrom die in Aserbaidschan lebenden Armenier bedrohte, ergriffen viele von ihnen die Flucht. Auch die Abanovichs. Das Datum hat Naida Abanovich noch genau im Kopf: der 23. Februar 1989.

Mit ihren beiden Söhnen Artur und Khoren zog die Familie vom Kaspischen Meer nach Minsk, Naida Abanovichs Heimatstadt. „Wir haben Arbeit gesucht, egal wo", sagt sie. Zunächst sangen die beiden Eltern im Auditorium der weißrussischen Hauptstadt. „Aber das Ensemble tourte wochenweise, mit zwei Kindern ging das nicht", sagt Naida Abanovich. Ihr Mann blieb im Ensemble, sie selbst arbeitete beim Fernsehen und Radio oder als ­Musiklehrerin. „Ich lebe für meine Kinder", sagt sie.

2003 starb ihr Mann. Ein Schock. „Ich wusste nicht, was ich tun sollte." Zunächst versuchte sie, ihre Familie allein durchzufüttern. Die Söhne hatten mal Arbeit, mal nicht. Doch das Geld reichte nicht. Als ihr eine Bekannte vom Leben auf Mallorca erzählte und ihr einen Job als Putzfrau auf der Insel anbot, sagte sich die Sängerin: „Warum nicht?"

Im April 2004 landete Naida Abanovich auf der Insel. Im ersten Jahr putzte sie ausschließlich. „Ich habe nicht viel verdient, aber es hat gereicht", sagt sie. Die Straßenmusikanten von Palma fielen ihr direkt auf: „Es gab einen Afrikaner, der gesungen hat, einen Gitarristen und zwei Akkordeonspieler aus Molda­wien - und das war´s auch schon", erinnert sie sich. Im Juli 2005 gesellte sich eine weißrussische Opernsängerin dazu.

Morgens und nachmittags arbeitet Naida Abanovich immer noch als Putzfrau. Ihre blaue Hose hat rötlich verfärbte Stellen von den Laugespritzern. „Der Ammoniak in den Putzmitteln ist nicht gut für die Stimme", sagt sie. Doch zwischen ihren Einsätzen mit Eimer und Wischmopp singt sie jeden Tag eine bis anderthalb Stunden auf der Straße. Immer wieder wird sie auch für spezielle Auftritte engagiert. Im Sommer ist sie häufig auf Firmenfeiern, Geburtstagen und Taufen zu hören. Am liebsten singt sie auf Hochzeiten, „weil alle so jung und glücklich sind. Die Energie ist positiv, das ist gut fürs Herz - wenn die Braut weint, weine ich immer mit."

So bewegt sich Naida Abanovich zwischen ihrem Putzeimer, dem Klingelbeutel der Straße und gelegentlichen Auftritten. Vor ein paar Jahren buchte ein russischer Yachtbesitzer sie für einen Privatauftritt. „Der Blumenkorb, den ich bekommen habe, war so groß, dass ich kaum in den Aufzug gepasst habe", sagt sie. Den Umschlag darin hätte sie erst zu Hause aufmachen können. „Frag nicht, wie viel ich dafür verdient habe", sagt sie. Ein deutscher Fan lud sie auch mal zu einer kleinen Konzertreise in den Norden der Bundesrepublik ein.

Und kürzlich noch ein weiterer ganz großer Auftritt, eine Hommage der Stadt an ihre Straßenmusikantin: Am 5. Januar thronte sie beim Dreikönigsumzug in Palma als Madó Caragola (Schneckenprinzessin) auf einem der Wagen. Zwei Stunden am Stück sang Naida Abanovich aus „La traviata" und dem Repertoire von Andrea Bocelli. „Ich sollte eigentlich nach jedem Lied eine kleine Pause machen, aber alles war voller Menschen, ich konnte nicht aufhören." Es war kalt und regnete, Abanovich sang weiter. Ihr Publikum dankt es ihr bis heute, viele sprechen sie auf ihren Auftritt als Madó Caragola an.

Ihre Gagen teilt sie genauso mit ihren Söhnen wie ihre magere Rente. „Ich helfe ihnen immer, ich bin sehr mütterlich", sagt sie. Wenn etwas Geld übrig ist, besucht sie ihre Kinder in Minsk. „Ich kann nicht jedes Jahr fliegen, ich habe Angst, dass mir andere Putzfrauen die Arbeit wegnehmen." Das war aber nicht der Grund, warum sie bei ihrem letzten Besuch in Minsk gegen Mittag immer nervös wurde. „Mein Sohn hat gesagt: Mama, du musst singen, das ist deine Droge. Und es stimmt: Wenn ich nicht singe, fühle ich mich krank." Zurück in ihr Land könne sie, obgleich „sehr patriotisch", ohnehin nicht: „Von Mallorca aus kann ich meine Kinder besser unterstützen."

In „La Wally" heißt es weiter: „Ich werde weggehen, allein und weit. Vielleicht komme ich nie wieder zurück."

Kontakt zu Naida Abanovich für Auftritte oder Putzarbeiten unter Tel.: 647-86 25 38 und E-Mail: naidaabanovich@hotmail.com