Richard braucht erst einmal ein Bier. Das wievielte es an diesem Tag ist, kann er nicht so genau sagen, wohl aber, welche Meinung er zum Brexit-Referendum hat. „Out", schreit er und zieht die Vokale wie ein Fußballkommentator beim Tor-Ruf in die Länge. Triftige Gründe für den Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union fallen dem Engländer aus Yorkshire, der gerade mit seinen Freunden Urlaub in Magaluf macht, so spontan keine ein. „Wir wollen, dass uns wieder unser eigenes Parlament sagt, was wir tun sollen, und nicht die Abgeordneten in Brüssel, die haben wir nicht gewählt", kommt ihm Saufkumpane Mick zu Hilfe - und auf einmal klinkt sich auch Richard wieder ins Gespräch ein. „Wegen der Einwanderer", ruft er voller Inbrunst und streckt seine Budweiser-Flasche in die Höhe. „Wir sind voll. Wir wollen nicht, dass die ganzen Syrer zu uns kommen, die können bei euch Deutschen bleiben", schiebt er mit einem hämischen Lachen hinterher.

Mike, der junge Kellner im „The Pub", serviert seinen Landsmännern die nächste Runde Bier. Er selbst werde nicht abstimmen, schließlich jobbe er gerade auf Mallorca, erklärt er. Außerdem interessiere ihn der Ausgang des brisanten Volksentscheids sowieso nicht. „Beides hätte wohl Vor- und Nachteile." Verlasse sein Land die EU, könne er nächstes Jahr vermutlich nicht mehr so einfach in Spanien arbeiten. „Aber das ist mir eigentlich egal, im Herbst fliege ich erst einmal nach Vietnam", sagt Mike und verschwindet wieder hinterm Tresen.

Dass Großbritannien dieser Tage turbulente Zeiten durchlebt, dass die Debatte zwischen „In"- und „Out"-Lager immer giftiger wird und der Ausgang des Referendums nach dem Mord an der Abgeordneten und Brexit-Gegnerin Jo Cox wieder völlig offen scheint, geht an der britischen Urlauberhochburg Magaluf offenbar spurlos vorüber. In der sich allsommerlich wiederholenden Endlosschleife aus Party, Alkohol bis zum Erbrechen und Katerstimmung ist kein Platz für politische Debatten. „Wir wollen nur feiern und betrunken werden", schreit Joe aus Nottingham, die schon ein halbes Dutzend Mal auf Mallorca war, aber außer Magaluf nichts von der Insel gesehen hat. Auch ihre Freundin Jenny hat keine explizite Meinung zum Brexit - und deshalb auch nicht vor, am Donnerstag (23.6.) ihre Stimme abzugeben.

„Mir macht es Angst, wenn all diese irren Leute abstimmen", sagt ein älterer Brite, der in einer Seitenstraße der Partymeile Punta Ballena vor einem Souvenirladen sitzt und seinen Namen lieber nicht nennen möchte. Ihm selbst ist der Volksentscheid eher einerlei, er sei seit vielen Jahren expat und verbringe die meiste Zeit des Jahres in Thailand. „Aber das Gefährliche an einem Austritt ist, dass andere ­Länder folgen könnten, Portugal oder Spanien etwa", sinniert er, während Ladeninhaberin Theresa Pridmore T-Shirts aufeinanderstapelt. Sie darf am Referendum nicht teilnehmen, da sie seit mehr als 15 Jahren im Ausland lebt - und zeigt auch kein gesteigertes Interesse daran. Der Hinweis, dass der Brexit sie als Residentin und Selbstständige im EU-Ausland direkt betreffen könnte, lässt sie dann aber doch aufschrecken. „Oh really? Das macht mir jetzt aber doch ein bisschen Sorgen!", entfährt es Pridmore.

Etwas mehr Gedanken hat sich da Alessandra Tyrrell-Charles gemacht, die in London Marketing Management studiert und bereits den dritten Sommer in Folge in Magaluf als Promoterin für die Cursach-Gruppe jobbt. „Wir müssen auf jeden Fall drin bleiben", sagt die 19-Jährige und reckt den Daumen in die Höhe. Nicht nur weil sie andernfalls im nächsten Jahr womöglich ein Arbeitsvisum bräuchte, sondern auch weil ­Großbritannien ihrer Meinung nach ohne die EU wirtschaftlich nicht überleben kann.

Auch Urlauber Michael, ein 18-jähriger Schotte, der in Glasgow Ingenieurwesen studiert, hat angesichts seines nicht ganz nüchternen Zustands eine überraschend differenzierte Meinung. „Ich wäre vor allem dafür, dass Schottland unabhängig wird", erklärt er. Doch als eigene Staaten sollten sowohl Schottland als auch England und Wales Teil der Europäischen Union bleiben. „Weil das aus wirtschafts- und sicherheitspolitischen Gründen Sinn macht", argumentiert Michael - und wirkt damit neben einer grölenden Horde schwedischer und britischer Touristen irgendwie fehl am Platz.

Die wirtschaftlichen Unwägbarkeiten eines EU-Ausstiegs waren während des Wahlkampfs das wichtigste Argument der Pro-Europäer. Seit Herbst 2015 hat das britische Pfund gegenüber dem Euro deutlich an Wert verloren - ein ­Abwärtstrend, der sich Experten zufolge nach dem Brexit nahtlos fortsetzen dürfte. „Ach was", sagt Damian, der an der Punta Ballena den Schmuckladen Big Ben Silver betreibt. „Das Pfund wird dadurch noch stärker, und es werden noch mehr Touristen kommen", ist der Brite überzeugt. Ihn selbst - der bereits vor 20 Jahren nach Mallorca kam, mit einer Mallorquinerin verheiratet ist und im beschaulichen Puigpun­yent wohnt - interessiere das Referendum zwar nicht weiter, gibt er unumwunden zu. „Aber alle Briten, die ich kenne, wollen raus."

Und wenn es dann ohne EU doch nicht so prickelnd ist? Wenn der Magaluf-Urlaub auf einmal deutlich teurer werden würde? „Das wird nicht passieren", ist sich Arthur, der immer noch mit Richard, Mick und seinen anderen sonnenverbrannten Kumpels im Pub sitzt, sicher. „Und falls doch, dann lasst ihr uns sowieso ganz schnell wieder rein", sagt er und prostet laut lachend in die Runde.