Die Szenerie erinnert ein bisschen an Pippi Langstrumpf oder Michel aus Lönneberga. Fünf Kinder zwischen 4 und 13 Jahren tollen auf der Terrasse umher, dazwischen mehrere Katzen. Spielsachen und Fahrräder. Dazu viel Grün, endlos viel Platz, ein geräumiges Haus, ein großes Schwimmbecken und fröhliches Lachen. Die neue Heimat von Jan Ullrich (43) auf Mallorca wirkt wie ein Kinderparadies. Der einzige deutsche Tour-de-France-Sieger - das war 1997 - hat ein neues Kapitel in seinem Leben aufgeschlagen und sich im vergangenen August mit seiner Frau Sara und den drei gemeinsamen Kindern Max, Benno und Toni auf der Insel niedergelassen.

Am Tag des MZ-Besuchs ist auch seine Tochter Sarah Maria (13) aus Deutschland mit einer Freundin zu Besuch. Wo das Haus auf Mallorca steht, soll aus Rücksicht auf die Privatsphäre nicht genannt werden. Nur so viel: In etwa 20 Minuten ist man in Palma, aber auch in den Bergen. Der ideale Standort für eine Familie mit Kindern und Hang zum Radsport.

Sie haben auf Mallorca ein zweites Leben begonnen. Warum hier?

Na ja, ein zweites Leben würde ich nicht sagen. Eher: einen neuen Lebensabschnitt. Ein Grund für Mallorca war das Wetter. Ich bin mit meiner Frau im Herbst vor eineinhalb Jahren im Nebel in der Schweiz spazieren gewesen - in der Nähe vom Bodensee ist drei Monate lang nur Nebel -, und wir haben uns gefragt: Was hält uns eigentlich noch hier? Natürlich spielte für uns auch eine Rolle, dass ich hier auf der Insel perfekt Radfahren kann und unsere Kinder international aufwachsen können. Dann haben wir uns ziemlich schnell entschieden, nach Mallorca zu ziehen.

Das heißt, Sie haben sich von der Schweiz komplett verabschiedet?

Nein, wir haben unser Haus dort erst einmal behalten und wohnen hier zur Miete. Wir wollten uns erst einmal ein Jahr hier geben und schauen, wie wir zurechtkommen. Dann wollten wir weiterüberlegen.

Und wie sieht das Zwischenfazit der Familie Ullrich aus?

Es ist zwar erst April, aber wir sind schon so weit hier angekommen, dass wir jetzt schon sagen können, dass wir uns das hier auch länger vorstellen können. Die Tendenz ist ganz klar, dass wir noch ein zweites und vielleicht drittes Jahr dranhängen. Oder vielleicht auch für immer hierbleiben.

Wie hat sich Ihre Familie eingelebt?

Wir sind alle sehr glücklich hier. Max hatte allerdings vor unserem Umzug Bedenken. Als wir ihm erklärt haben, dass wir umziehen, war er erst einmal traurig und ist aus dem Zimmer gerannt. Dann ist er allerdings nach einer Stunde wiedergekommen und hat gesagt, dass er überreagiert habe und dass die Spanier im Fußball ja viel besser seien als die Schweizer. Und er hat hier auch einen guten Verein gefunden, die sind sogar Tabellenführer in ihrer Liga. Die Kinder gehen hier zur Schule und lernen fleißig Englisch und Spanisch.

Wie sind Sie an das Haus gekommen?

Das hat meine Frau gefunden. Wir hatten zwar mehrere Makler damit beauftragt, aber im Endeffekt war es eine Anzeige in einem spanischen Immobilienportal. Es war sehr schwierig, etwas zu finden. Es gab kaum Angebote. Und wenn, dann wurden die Häuser an Urlauber vermietet. Klar, damit verdient man deutlich mehr. Wir waren nach mehreren ergebnislosen Flügen auf die Insel schon fast so weit, dass wir unser Vorhaben wieder abgeblasen hätten.

Sie haben jahrelang auf Mallorca trainiert. Wie hat sich Ihr Verhältnis zur Insel verändert, seit Sie auch hier leben?

Mallorca war für mich früher eine reine Arbeitsinsel. Wir saßen jeden Tag sieben Stunden auf dem Rad, und ich habe wirklich ein paar Jahre gebraucht, um die Insel toll zu finden. Es war immer die reine Pflicht hier zu sein, Training und Journalistengespräche. Dann bin ich vor sechs Jahren mal eine Tour über kleine Wege im Gebirge gefahren und in ein kleines Fischerdorf gekommen. Mallorca war Liebe auf den zweiten Blick.

Wie verbringen Sie Ihre Tage?

Etwa 80 bis 100 Tage im Jahr gebe ich Radcamps auf der ganzen Welt, einige auch auf Mallorca. Den Rest der Zeit bin ich bei meiner Familie oder fahre selbst Rad. Ich bin eigentlich nicht gekommen, um mir hier ein neues Geschäftsfeld aufzubauen. Aber es wäre möglich. Ich habe schon mit ein paar Hoteliers gesprochen, die gerne Camps mit mir anbieten würden. Zudem habe ich auch selbst einige Kunden, die gerne auf Mallorca mal etwas Extravaganteres machen möchten. Der Vorteil hier ist: Ich bin selbst der Veranstalter und kann meine eigenen Touren und ein eigenes Rahmenprogramm anbieten. Sonst bin ich ja auch immer gebucht und muss das Programm der Veranstalter abfahren.

Müssten Sie überhaupt noch arbeiten?

Nein, aber ich habe gemerkt, dass ich etwas machen will und muss, um eine Beschäftigung zu haben und Anerkennung zu bekommen. Vielleicht beginne ich auch noch einmal etwas ganz Neues. Etwas, das gar nichts mit Radsport zu tun hat. Meine Frau macht gerade eine Ausbildung, in der es viel um Heilung und Ernährung geht. Das finde ich sehr spannend, auch ich könnte mir etwas Ähnliches vorstellen. Vielleicht eröffne ich aber auch eine Sportschule. Die definitive Zukunftsidee habe ich einfach noch nicht. Aber wenn ich sie finde, dann hier auf Mallorca.

Hatten Sie das Radfahren nicht so richtig satt nach all dem, was passiert war?

Ich bin ja vier Jahre überhaupt kein Rad gefahren. Da war so viel Frust, es gab so viele Dinge, die irgendwie nicht aufgingen. Ich fühlte mich auch zum Teil unfair behandelt, obwohl ich sicherlich auch meine Fehler gemacht habe. Aber eben nicht allein. Die Beziehung mit dem ­Fahrrad wurde eine Art Hassliebe. Diese vier Jahre ab dem Moment, in dem ich 2006 gesperrt wurde, war die schlechteste Zeit in meinem Leben. Aber ich brauchte ja Bewegung. Ich habe gemerkt, dass es mir nicht gut ging, wenn ich nicht mehrmals in der Woche ein paar Stunden Rad fahre. Ich bin ja kein Bürohengst, ich muss Sport machen.

Trotzdem musste Sie ein Freund überreden, wieder anzufangen?

Er hat mich motiviert, mit ihm den Ötztal-Marathon zu fahren, und da habe ich ihm zugesagt. So bin ich wieder zum Radsport gekommen.

Sie steckten zuvor in einem tiefen Loch ?

Das Leben geht ja weiter. Trotzdem muss ich sagen: In Deutschland macht man seine Sportstars kaputt, die Presse macht sie kaputt. Ich habe auch Jahre nach dem Dopingfall so schöne Interviews gegeben, da wurde dann alles rausgestrichen und wieder nur der Absatz über Doping veröffentlicht. In anderen Ländern ist das anders. Der Amerikaner beispielsweise ist erst ein gestandener Mensch, wenn er zwei große Fehler gemacht hat. In Deutschland kann ein einziger Fehler dein Leben kaputt machen.

2014 haben Sie mit dem Unfall unter Alkoholeinfluss einen zweiten Fehler gemacht.

Das darf natürlich nicht passieren. Zum Glück hat sich niemand ernsthaft verletzt. Ich bin optimistisch, dass diese Geschichte bald abgeschlossen ist. Es sieht ja so aus, dass zumindest eine Gefängnisstrafe zum momentanen Zeitpunkt nicht mehr zu befürchten ist, auch wenn die Richter sich noch nicht gemeldet haben.

Haben sich viele von Ihnen abgewendet?

Früher in den erfolgreichen Zeiten hatte ich sehr viele Freunde. In den schwierigen Zeiten merkt man dann, wer ein wahrer und ehrlicher Freund ist. Da mein Leben eine Achterbahn war, konnte ich zwei-, dreimal den Rattenschwanz abschneiden. So bleibt jetzt ein harter Kern - meine Familie und ein paar gute Freunde -, der mir wirklich nahesteht.

Nach den Skandalen war der Radsport in Deutschland lange Zeit klinisch tot. Wie sehen Sie zurzeit die Szene in Deutschland?

Ich glaube, da entsteht gerade etwas Gutes. Immerhin startet die Tour de France dieses Jahr in Düsseldorf. Das wird ein Spektakel, da werden die Leute mal wieder sehen, was Radsport wirklich ist. Und diesen Boom muss man unterstützen. Dann müssen unsere Topfahrer auch nicht alle ins Ausland gehen. Es wird ja auch gerade wieder an einer Neuauflage der Deutschland-Tour gearbeitet.

Gibt es genügend Stars in Deutschland für einen neuen Boom?

Na klar, wir haben tolle Fahrer. An­dré Greipel, Marcel Kittel, Tony Martin, John Degenkolb und wie sie alle heißen. Diese Fahrer können sicher bei der Tour de France und auch bei anderen Rennen wieder Etappensiege holen. Sie sind echte Stars im Peloton und sorgen für Aufschwung im deutschen Profi-Radsport. Natürlich wäre es toll, wenn wir wieder mal einen Fahrer hätten, der in der Gesamtwertung der großen Rundfahrten aufs Podium fahren kann.