Im Fahrradkeller unterhalten sich drei Jungen, machen Witze. In der zweiten Etage lümmelt sich ein Geschwisterpaar im offenen Essbereich, der an eine moderne Küche und einen gemütlich eingerichteten Aufenthaltsraum angrenzt. Hier stehen Sofas, in einem Regal stapeln sich Brettspiele, an der Wand hängt ein Fernseher. Im ersten Moment vermittelt der renovierte Altbau im Stadtviertel El Terreno von Palma de Mallorca Jugendherbergs­atmosphäre. Doch hier und da stehen Türen offen und lassen einen Blick auf Jugendzimmer zu, in denen weder Koffer noch Hochbett an Hochbett stehen. Es ist offensichtlich: Die Jugendlichen, die hier schlafen, wohnen hier in der Fundació Natzaret.

„Früher nannte man so etwas Waisenhaus", sagt Pep Olivares nachdenklich. „Heute sprechen wir von einem Jugendschutz-Zentrum." Olivares Büro ist auf demselben Flur wie die Zimmer untergebracht. Ein schlichter Raum, doch vom Fenster aus kann man die Mastspitzen der Segelschiffe sehen, die in der nahen Bucht vor Anker liegen. Er ist einer von zahlreichen Erziehern, die dafür sorgen, dass die Kinder und Jugendlichen 24 Stunden am Tag einen Ansprechpartner haben. Auch Psychologen, Verwaltungsangestellte und Sozialarbeiter sind bei der Fundació Natzaret tätig, um den rund 50 Jungen und Mädchen zwischen sechs und 17 Jahren ein Leben zu ermöglichen, das so nah an ein Familien­leben herankommt wie möglich.

Enge Bindungen und eine Vertrauensbasis zu schaffen, ist das Ziel der Mitarbeiter - und zugleich wohl die größte Herausforderung. Denn Vertrauen ist das, was vielen der Kinder am schwersten fällt. „Sie haben Dinge erlebt, die schlimmer sind, als man es sich überhaupt vorstellen kann", so Olivares. „Man denke an Missbrauch und Gewalt, wie man sie aus Filmen kennt, und multipliziere es um ein Vielfaches."

Wer ins Jugendschutz-Zentrum zieht, der kommt in der Regel, um zu bleiben. „Es ist wie ein letzter Schritt", erklärt Olivares. Wenn es in den eigenen Familien nicht klappt und den Eltern das Sorgerecht entzogen werden muss, wenn auch die Versuche, die Kinder in Pflege- oder Adoptionsfamilien unterzubringen, scheitern, dann kontaktiert die Sozialbehörde IMAS des Inselrats Einrichtungen wie die ­Fundació Natzaret. Zunächst kommen die Neuen ein paar Mal tagsüber vorbei und lernen so das von einem weitläufigen Gelände mit Fußballplatz und Gemüsegarten umsäumte Gebäude kennen. Dann ziehen sie ein. In Einzelfällen dürfen die Kids an den Wochenenden zu ihren Eltern, andere sehen ihre Erzeuger unter strenger Aufsicht bei Besuchen hier vor Ort, wieder andere werden vermutlich nie wieder mit den Eltern Kontakt aufnehmen dürfen, bis sie volljährig sind.

„Pep", ruft ein etwa 13-jähriger Junge, der plötzlich in der Bürotür steht und die Hände in die Hüften stemmt. „Kann ich meine Aufgaben später erledigen?", fragt er herausfordernd. „Nein, du weißt, wie die Regeln sind", erwidert der Erzieher freundlich, bleibt aber hart, als der Junge maulend abzieht. „Es ist wichtig, dass die Jugendlichen Strukturen haben und lernen, einen Haushalt zu führen. Schließlich müssen sie mit 18 Jahren hier raus." Spül- und Aufräumpläne sind deshalb für alle verpflichtend. Als wieder ein Halbwüchsiger in der Tür steht - diesmal ein etwas älterer - und erklärt, er wolle mal kurz raus, um etwas einzukaufen, nickt Olivares gutmütig. „Wir sperren hier niemanden ein, und finden es sogar gut, wenn die Kids rauskommen und nicht nur hier und unter sich sind."

Das war nicht immer so. Als die Stiftung 1924 von der Kirche gegründet wurde, soll die Einrichtung den typischen Waisenhäusern aus tristen Filmen um nichts nachgestanden haben. So berichten es ehemalige Bewohner, die mittlerweile bereits im Rentenalter sind. Nonnen betreuten damals die Kinder, Zucht und Ordnung bestimmten den Alltag. „Es muss ziemlich hart gewesen sein. Damals herrschten andere Sitten", sagt Olivares, der selbst mit Ehemaligen gesprochen hat. Der Umschwung kam Anfang der 90er-Jahre. Auch der kirchliche Einfluss schwand - obwohl bis heute der Bischof von Mallorca offizielles Oberhaupt der Stiftung ist. „Aber den haben wir hier noch nie gesehen", so Olivares.

Heute stehen an den Wochenenden meist Ausflüge an: ins Kino, ins Aquarium, an den Strand oder in die Berge. „Und sonntags setzen wir uns über die Empfehlungen der Ernährungsberaterin hinweg, und die Kids dürfen entscheiden, was wir kochen", sagt Olivares und setzt ein verschmitztes Lächeln auf. Dann wird er wieder ernst. „Wir machen uns nichts vor. Natürlich können wir keine Familie ersetzen. Wir sind immer nur die Notlösung." Dennoch fließen oft Tränen, wenn der 18. Geburtstag eines Bewohners näher rückt. Häufig kommen die jungen Erwachsenen zum Sonntagsessen auch weiterhin vorbei. Und wer mag, kann in gesonderten Wohnungen der Stiftung bis zum 25. Lebensjahr unterkommen, wenn er studiert oder arbeitet. „Viele nehmen das Angebot an", so Olivares. Für sie ist die Einrichtung doch zu einem Zuhause geworden.