Als Miquel Coll aus einer DIN-A-4-Klarsichthülle mit spitzen Fingern mehrere Briefe fischt, ist er auf einmal den Tränen nahe. „Die Kosten sind uns einfach über den Kopf gestiegen", sagt der untersetzte 69-Jährige. Der frühere Inselrats-Mitarbeiter war seit 2012 Schatzmeister des Nachbarschaftsvereins Montepío de Previsión Arrabal in Palmas ehemals armen und jetzt schicken Stadtviertel Santa Catalina.

Es ist Freitag, der 5. Januar. Coll packt Kisten im Vereinslokal am Carrer Caro und hängt Fotos von Altkönig Juan Carlos sowie von Ex- und Noch-Inselgrößen wie Ministerpräsidentin Francina Armengol, dem Ex-Premier Jaume Matas und der früheren Inselratschefin María Antònia Munar ab. Auf Tischen liegen schwarz-weiße Gruppenfotos, die früher die Wände zierten. Und Schilder. Auf einem steht: „Bitte nicht laut sprechen". Coll zeigt drauf und lächelt melancholisch.

Noch nicht weggeräumt hat der secretario die dunkelroten Vereinsfahnen. „Ich traue mich noch nicht, sie anzufassen." Lorenzo Sabater Pujol, der bereits 87-jährige Chef des Vereins, ist gar nicht erst gekommen. Er ist körperlich und wohl auch seelisch nicht mehr in der Lage, sich an den Aufräumarbeiten in den beiden Räumen zu beteiligen.

Inklusive Gratis-Bestattung

Einst waren die als Montepíos bekannten Hilfsvereine in Spanien überlebenswichtig: In ihnen schlossen sich seit dem 18. Jahrhundert Berufs- oder Interessengruppen zusammen, um sich gegen die Unbill des Lebens zu schützen. „Es gab früher noch kein funktionierendes Krankenversicherungssystem in Spanien", sagt Miquel Coll. „Bei uns jedoch arbeiteten ein Allgemeinmediziner, ein Zahnarzt, ein Augenarzt, eine Hebamme und eine Krankenschwester, die sich kostenfrei um die Menschen kümmerten."

Außerdem war im Mitgliedsbeitrag von drei Peseten im Monat sogar noch ein Gratis-Bestattungsservice für ein Gemeinschaftsgrab inbegriffen. Kein Wunder, dass der 1884 gegründete Verein in seinen besten Zeiten über 1.200 Mitglieder zählte.

Und auch als die spanische Sozialversicherung schon längst ausgebaut war, blieb der Arrabal über Jahre hinweg ein beliebter Treffpunkt für die Einwohner von Santa Catalina.

Erst Umzug, dann Schließung

Als Miquel Coll 2012 Schatzmeister wurde, hatte der Verein wegen einer astronomisch hohen Mieterhöhung gerade seine seit 1930 existierenden Räumlichkeiten in der Nummer 32 der Fressgasse Fábrica verlassen müssen. Damals glaubte Coll noch, dass Arrabal eine Zukunft habe. Doch er sollte sich irren. „Im Jahr 2016 hatten wir nur noch 117 Mitglieder, und immer weniger von ihnen zahlten ihre Beiträge", sagt der ergraute Fan von David Bowie, der, wenn ihm danach ist, Gedichte schreibt. „Junge Leute kamen nicht mehr nach, zuletzt hatten wir bei einem Altersdurchschnitt von 74,7 Jahren und Männerüberschuss nur noch vier Mitglieder unter 30 Jahren."

Bei so wenigen Mitgliedern sei es nicht mehr möglich gewesen, die Kosten für Elektrizität, Miete, Gas, Wasser, Telefon und nötige Renovierungen zu decken. „Am 17. November 2017 standen wir trotz einer Subventionierung durch den Inselrat mit 1.860 Euro bei diversen Gläubigern in der Kreide."

So seien die letzten Jahre des Vereins die „Chronik eines angekündigten Todes" gewesen, klagt Miquel Coll. Wobei der Wandel des gerade bei Schweden und Deutschen beliebten Viertels beim Niedergang des Vereins keine Rolle gespielt habe. „Die Zuzügler haben kaum jemand von uns aus dem Viertel vertrieben", so Coll. Auch er selbst lebe mittlerweile in Arenal, „aber es war eine persönliche Entscheidung, dorthin zu ziehen, ich wollte einfach näher am Strand sein."

Der Niedergang von Arrabal hat seiner Überzeugung nach einen ganz anderen Grund: Für die Mitglieder sei das Vereinsleben einfach nicht mehr so wichtig gewesen. Zuletzt passierte in den Vereinsräumen nur noch wenig: „Ab und zu gab es mal eine Lesung, einmal im Jahr machten wir einen Ausflug", sagt Miquel Coll. Interessant waren zuletzt für viele nur noch die Spielabende mit Domino und Truc, dem mallorquinischen Kartenspiel. „Immerhin fanden noch dreimal pro Woche Bingo-Veranstaltungen statt", erinnert sich der secretario.

Hier bahnten sich Ehen an

Kein Vergleich zu früher, als sich hier bei Grillabenden, Tanzveranstaltungen und der gelegentlichen gemeinschaftlichen Anrufung der Virgen del Carmen, der Schutzheiligen des Viertels, zwischenmenschliche Beziehungen anbahnten. „Es war ein zweites Zuhause für viele Menschen, fast eine Familie", sagt Miquel Coll. „Man trank im Arrabal seinen vermú, tratschte und lachte." Auch wer hier essen wollte, kam auf seine Kosten: Ein mehrgängiges Abendessen kostete inklusive Getränke jahrelang nur 7,50 Euro.

Hinzu kamen in den letzten 20 Jahren die Auftritte des vereinseigenen Arrabal-Chors. Immer freitagabends ab 19 Uhr heizten die Sänger den Vereinsmeiern ein. Sie sind die Einzigen, die als Gruppe überleben: Der Chor hat inzwischen einen neuen Auftrittsort, die Bar Can Lluc im Carrer Despuig. Der secretario Miquel Coll ist nach dem Gespräch mit der Mallorca Zeitung weiterhin sichtlich traurig. Man kann es ihm nicht verdenken. „Ich muss hier bald fertig werden, denn nächste Woche muss ich der Besitzerin den Schlüssel abgeben", sagt er. „Danach will ich meinen ersten Band mit Gedichten auf Mallorquinisch schreiben."