Es war der 12. März 1937, als die damals elfjährige Mutter von Maria Antònia Oliver zum Gefängnis Can Mir in Palma ging. Dort, wo heute das Kino Augusta steht, neben der Station des „Roten Blitz", saß ihr Vater Andreu Peris ein. Sie wollte ihm Essen bringen, was einmal die Woche erlaubt war. Die Wachen sagten ihr, dass man den Vater, einen Sozialisten und Gewerkschafter aus Inca, am Vortag entlassen hatte. Was das wirklich hieß: Der Vater ist tot, anonym in einem Massengrab verscharrt.Seine Enkelin Maria ­Antònia Oliver begann vor 15 Jahren nach ihrem Großvater zu forschen. Zusammen mit anderen Opfer­familien gründete die gelernte Archivarin schließlich am 24. Fe­bruar 2006 den Verein „Memòria Històrica de KinoRoten BlitzInca

Mallorca

Wann haben Sie das erste Mal die Geschichte Ihres Großvaters gehört?

An das erste Mal erinnere ich mich nicht. Aber ich weiß noch, dass meine Mutter meiner Schwester und mir immer nach dem Baden die Haare gekämmt hat. Dabei hat sie uns Geschichten von ihrem Vater erzählt. Dass er ein sehr guter Mann war, tapfer und friedliebend. Der nie eine Waffe in die Hand genommen hatte und nie in den Krieg gezogen war. Und der doch im Krieg ermordet wurde. Das habe ich als Kind nicht wirklich verstanden, wie das sein konnte. Vor allem aber erinnere ich mich, dass meine Mutter immer dabei geflüstert hat. Wenn ich sie fragte, warum sie so leise ist, sagte sie: Die Wände hören mit. In der Franco-Diktatur konnten solche Themen nur im Kreise der Familie besprochen werden.

Vor rund 15 Jahren haben Sie angefangen, seine Geschichte und die vieler anderer Opfer aufzuarbeiten. Was hat Sie angetrieben?

Ich habe mich schon immer für das Thema der Ungerechtigkeit interessiert. Das hat mir unter anderem mein Vater mitgegeben. Vor allem habe ich aber gemerkt, dass etwa meine Mutter immer noch Angst hatte, über das zu sprechen, was ihrem Vater widerfahren war. Und ich bemerkte, dass der Staat nichts tat, um die Geschichte der Opfer der Diktatur aufzuarbeiten. Denn wir vergessen oft, dass den Schrecken des Bürgerkrieges 36 Jahre Diktatur folgten. In der Menschen verschleppt, gefoltert und getötet wurden. Und einige Folterer sind nicht nur am Leben, sie sind sogar mit Ehrenmedaillen der Polizei ausgezeichnet worden. Und es sterben Menschen, die zu Unrecht als Landesverräter in der Diktatur verurteilt wurden und denen trotz Jahrzehnten der Demokratie keine Gerechtigkeit widerfahren ist.

Wie erklären Sie sich, dass der Staat so passiv ist?

Es hat in Spanien keinen Übergang in die Demokratie gegeben, wie es sich gehört. Nach der Diktatur wurde Schweigen vereinbart. Und das hat gehalten.

Auch auf Mallorca?

Hier auf Mallorca ist etwa die jetzige Linksregierung die Erste, die sich überhaupt ein wenig für die Aufarbeitung einsetzt. Und auch sie hält nicht alles ein, was sie versprochen hat. Allein, dass die Aufarbeitung der Geschichte in das Kultur- und Sportministerium fällt, ist schon ein starkes Stück. Aber wir zittern auch schon vor den nächsten Wahlen. Wenn die konservative PP an der Macht ist, wird alles abgeblockt.

Wie kann das sein in einer Demokratie?

Ich glaube, die PP fühlt sich als Nachfolgerin¡ der Franco-Diktatur. Diese Partei, meist in Zusammenschluss mit der liberalen Ciudadanos, torpediert alle Versuche, die Diktatur aufzuarbeiten. Wir reden hier von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Und das sage nicht ich. Das sagen Juristen. Und das sagt übrigens auch Amnesty International.

Wie argumentieren diese Politiker, wenn Sie mit ihnen sprechen?

Nun, es gab schon PP-Politiker, die mir im privaten Gespräch gesagt haben, dass sie es okay finden, dass wir etwa Gräber suchen. Aber dass wir das doch bitte nicht so öffentlich machen sollen. Und eines fällt auf: Dass wir nach den Opfern suchen, das wird mittlerweile verstanden. Aber wehe, wenn wir die Geschichte der Täter aufarbeiten. Dann gehen sie auf die Barrikaden. Da kommen Armeen an Anwälten, die alles dafür tun, um uns aufzuhalten. Das Gleiche gilt, wenn man Monumente der Diktatur abreißen will.

Um den Abriss des Monuments Sa Feixina in Palma gibt es seit Jahren einen Streit.

Gutes Beispiel. Es erinnert an das Kriegsschiff „Baleares", das im Bürgerkrieg von Republikanern versenkt wurde. Das ist traurig. Aber erinnern wir uns, wovon wir hier reden: ein Kriegsschiff, auf dem unter anderem Mitglieder des Nazi-Regimes als Berater an Bord waren, das zivile Flüchtlinge auf der Straße von Málaga nach Almeria abgeschossen hat. Wollen wir wirklich ein Monument für die Besatzung dieses Schiffes erhalten?

Was ist mit den Sozialisten? Immerhin waren viele der Opfer Linke. Haben die kein Interesse, die Geschichte aufzuarbeiten?

Das verstehe ich bis heute nicht. Meine Mutter hat immer gehofft, dass „ihre Leute" schon für Aufklärung sorgen würden. Dann kam aber die Demokratie und von den Sozialisten nichts.

Wie steht es um andere Institutionen?

Nur das Militär hat, nach vielen Mühen, die Archive ein wenig geöffnet. Die Guardia Civil, die Nationalpolizei und die Kirche verweigern sich bis heute. Dabei könnten gerade sie viel zur Aufklärung beitragen.

Drei oder vier Generationen später: Wirkt sich der Bürgerkrieg noch in den Dörfern aus?

Nun, Gewalt gibt es deswegen keine. Aber es wird geschwiegen. Man weiß genau: Mit dieser Person kann ich nicht über bestimmte Themen reden, sonst gibt es Streit. Und das auch unter Freunden! Das ist nicht gesund.

Trotz dieser ganzen Probleme haben Sie auch Erfolge gefeiert.

Ja, aber es fehlt noch so viel. Einfaches Beispiel: Ich habe meinen Opa noch nicht gefunden.

2014 wurden in Sant Joan die ersten Massengräber auf Mallorca geöffnet, zwei Jahre später folgte Porreres. Wie reagieren die Leute in den Dörfern?

In Porreres kamen 2016 Hunderte an das Grab. Viele haben sich bei mir bedankt. Oder mich um Verzeihung gebeten. Von ihnen ist eine Last abgefallen. Denn das ist ja das Absurde: Es gab kein offizielles Dokument, dass bestätigte, dass die Opfer an der Stelle begraben waren. Aber doch schien jeder im Dorf zu wissen, wo das Grab war. Die Knochen lagen nicht mal einen Meter unter der Erde. Wir sahen zudem die Überreste von Menschen, die eindeutig gefoltert wurden. Da brauchte man kein Experte zu sein, um das zu erkennen.

Kommen Sie da eigentlich auch mit den Familien der Täter in Kontakt?

In Porreres ist das passiert. Da kam ein Mann und sprach mich in einem Café an. Er begann mir zu erklären, dass er mit alledem nichts zu tun hat, dass sein Großvater aber an Erschießungen beteiligt war. Und er bat mich um Verzeihung.

Wie haben Sie reagiert?

Ich war total verstört und sagte ihm: „Warum entschuldigst du dich bei mir? Weder du noch ich können etwas dafür. Aber wenn du es schon seit Jahren wusstest, warum hast du nichts zur Aufklärung beigetragen? Das hätte geholfen." Bei mir muss sich niemand entschuldigen.

In Porreres konnten bislang 14 der 49 gefundenen Opfer identifiziert werden.

Ministerpräsidentin Francina Armengol hat die Ergebnisse der DNA-Analysen den Familien übergeben. Die Beteiligung der Regierung war uns sehr wichtig. Bei der Zeremonie waren knapp 150 Menschen anwesend. Alles Familien­angehörige. Da wurden mir noch einmal die Dimensio­nen klar: Für jedes der Opfer waren an diesem Tag über zehn Menschen anwesend. Und da waren nicht mal Freunde, Arbeitskollegen und Parteigenossen mit eingeschlossen. Aber all diese Menschen sind betroffen. All diese Menschen sind in irgendeiner Form auch Opfer.

Wie steht Mallorca im spanienweiten Vergleich bei der Auf­arbeitung da?

Ziemlich gut. Es gab vor uns zwar schon in Katalonien, dem Baskenland und Andalusien Gesetze zur Aufarbeitung der Massengräber. Aber die wurden nur schlecht umgesetzt. Und die Balearen haben von den Fehlern der anderen gelernt. Das Gesetz wurde sogar einstimmig vom Parlament verabschiedet. Zudem werden gerade neue Gesetze erarbeitet, die auch andere Aspekte umfassen, wie die Diktatur und die Öffnung von Archiven. Da wird es sicher mehr Widerstand geben. Aber es zeigt, wie schlimm es steht, dass wir mit unseren vielen Problemen dennochVorreiter sind.

Wie fühlt es sich für Sie an, dass in Den Haag Kriegsverbrecher aus Jugoslawien verurteilt werden, aber jene aus dem Spanischen Bürgerkrieg nicht mal angeklagt sind?

So wie damals, als der spanische Richter Baltasar Garzón 1998 die Verbrechen der Diktatur in Chile aufklären wollte und Pinochet in London festgesetzt hat. Da haben alle geklatscht, auch die PP. Als Garzón später die Kriegsverbrechen in Spanien aufklären wollte, hat man ihn abgesägt und seine Karriere zerstört.

Wann können Sie mit Ihrer Aufklärungsarbeit aufhören?

Wenn ich das Gefühl habe, dass es läuft. Dass alle Institutionen zusammenarbeiten. Dass die Aufklärung etwas Natürliches ist in dieser Gesellschaft. Aber ich bin skeptisch, dass wir an diesen Punkt kommen. Wir bräuchten dafür eine Regierung, die sich kompromisslos an unsere Seite stellt. Die bereit ist, gegen alle Widerstände für die Aufklärung zu kämpfen. Und zwar eine komplette Aufklärung. Ich will nicht nur die Geschichte der Opfer erzählen. Ich will die Namen der Täter nennen. Erst dann können wir das Thema abschließen.

Machen Sie sich Sorgen, dass sich die Geschichte wiederholen könnte?

Nun, wir leben jetzt in einer ganz anderen Zeit als vor dem Bürgerkrieg. Aber klar gibt es Dinge, die mir zu denken geben. Etwa wenn Polizisten auf dem Weg zum Referendum in Katalonien den Schlachtruf „A por ellos" rufen (Auf sie mit Gebrüll). Oder was mir neulich passiert ist: Ich war mit meinem Mann in Palma spazieren. In einer Bar spielten Musiker habaneras, wunderschöne Musik. Wir blieben, um sie zu hören. Als sie fertig waren, sagt einer der Musiker: „Es war wunderschön mit euch. Das Einzige, was jetzt noch fehlt, ist ein paar Katalanen abzuknallen." Und das Publikum lachte. Ich dachte: Wirklich? Ihr lacht darüber, dass einer andere Menschen für seine politischen Ideen erschießen will? Das hat mich sehr schockiert.