Schaut man sich Tomeu ­Canyelles' Output in den vergangenen fünf Jahren an, fragt man sich, wie viele Stunden sein Tag hat. Seit 2013 hat der promovierte Historiker fünf Bücher zu Kultur- und Gesellschafts­geschichte auf Mallorca veröffentlicht, unter anderem zum Sittenwandel durch den Tourismus und zur Rezeption der Beatles. Er beschäftigt sich zudem mit den Hooligans in Magaluf und den ausländischen Medien auf der Insel. Gerade arbeitet er über die Gefangenen, die während des Spanischen Bürgerkrieges im Castell Bellver interniert waren. Er hat Ausstellungen, unter anderem zur Geschichte der Plattencover in der Geschichte Mallorcas kuratiert und ist regelmäßiger Gastautor in verschiedenen Musikmagazinen und Zeitungen.

Das Archiv des Onlinemagazin 40putes, das er 2012 mitbegründet hat, zählt in den drei Jahren seiner Existenz über 200 Rezensionen und Interviews von Canyelles. Das Online-Heavy-Metal-Lexikon „Encyclopedia Metallum" nennt fünf Bands, in denen er in den vergangenen zehn Jahren Gitarre gespielt hat. Mit zwei von ihnen, Forces Elèctriques d'Andorra und Marasme, bringt er 2018 jeweils ein neues Album heraus. Und da das nicht genug ist, ist er zurzeit von der Stadt Palma beauftragt worden, das Kulturkonsumverhalten der Palmesaner zu erforschen und auf dieser Grundlage die Konzerte für die Sant-Sebastià-Feierlichkeiten zu organisieren.

Und trotz alledem präsentiert sich ein entspannter und gut gelaunter 33-Jähriger in den Räumen der Mallorca Zeitung zum Interview. Er kommt gerade vom Radiosender IB3, wo er jeden Freitag ein einstündiges Musikformat präsentiert.

Herr Canyelles, Sie haben über Punk auf Mallorca geforscht oder über die picadors, die Touristinnen-Aufreißer der 60er-Jahre. Tragen Sie die alternative Geschichte der Insel zusammen?

Ich versuche einen Teil unserer Geschichte zu beschreiben, über den wenig geredet wird und der uns helfen kann zu verstehen, wer wir sind. Deshalb schreibe ich nicht nur über Musik, sondern auch über die Franco-Zeit und den Übergang in die Demokratie. Weil dies Epochen sind, die uns bis heute beeinflussen. Aber mich interessieren, wenn wir etwa über den Tourismusboom reden, weniger die großen Bezüge - Wirtschaft, Landschaft oder Demografie - als die Mikrogeschichte. Wenn man einen persönlichen Bezug herstellen kann und es nicht schon tausend Mal erzählt wurde, ist das sehr aufregend. Die Leser können sich mehr damit identifizieren.

Diese Geschichten muss man erst einmal sammeln.

Genau. Ich möchte das Bild vom Historiker brechen, der in seinem Kämmerchen Manuskripte mit der Lupe untersucht. Ein Historiker muss auf die Straße gehen. Er muss natürlich auch viel lesen, aber vor allem muss er mit den Menschen reden. Egal ob picadors, Punks, Bikinis oder Hooligans. Dass Gespräch war immer die Basis für die Recherche.

Ihre Bücher sind leicht zu lesen.

Das hat eine einfache Erklärung. Viele der Bücher in meiner Ausbildung waren eher zäh zu lesen. Da ging ein Satz schon mal über eine ganze Seite. Ich achte darauf, dass meine Sprache immer korrekt ist, aber dass man es dem Leser trotzdem leicht macht. Was bringt es mir, so viel Mühe aufzuwenden, wenn am Ende keiner kapiert, was ich da schreibe? Autor und Rezipient müssen meiner Meinung nach auf Augenhöhe sein.

Verspüren Sie eigentlich Nostalgie, wenn Sie die Geschichte der Insel erforschen?

Nein. Null. Ich weiß nicht, ob es an meinem Charakter liegt oder an meiner Arbeitsweise, aber dieses Gerede, dass früher alles besser war, behagt mir nicht. Unsere Gesellschaft heute hat viele positive Aspekte. Und rein praktisch: Es war als Historiker noch nie so leicht, an Forschungsmaterial zu kommen. Am Anfang eines jeden Forschungsprojekts stehen immer Fragen, nicht Gefühle.

Sie sind seit einigen Jahren sehr in den Medien präsent. Wenn es um zeitgenössische und vielleicht etwas abseitige Geschichte geht, ruft man Tomeu Canyelles an. Macht die Insellage es einfacher, sich als junger Historiker einen Ruf als Experte zu erarbeiten?

Deshalb mache ich das doch nicht. Es ist gerade in Mode, die großen Kontexte zu erklären. Ich habe aber immer geglaubt, dass im Lokalen viel Potenzial liegt. Man steht den Orten und Protagonisten sehr nah, man ist selbst Teil davon. Es motiviert, Aspekte einer Insel zu entdecken, die man häufig auf Klischees reduziert.

Die Nähe zu Ihren Protagonisten kann aber auch Nachteile haben. Als Historiker decken Sie ja nicht nur schöne Seiten der Insel auf.

Ich mochte nie den Klatsch und die Skandalisierung. Man muss bei der Arbeit zwischen historischer Bedeutung und Sensationslust unterscheiden können. Aber diese Linie erkennt man eigentlich relativ schnell. Und die Menschen vertrauen einem ihr Schicksal an. Man will sie nicht enttäuschen. Und nichts veröffentlichen, was ihnen, ihrer Familie oder vielleicht dem Kollektiv, dem sie angehören, schaden könnte. Auf so einer kleinen Insel wie Mallorca, kann man es sich nicht erlauben, einen schlechten Job zu machen.

Aber manchmal muss man entweder dem einen oder dem anderen schaden. Das ist sicher beim Punk nicht so der Fall wie bei den Gefangenen im Schloss Bellver.

Da Sie es gerade ansprechen: Beim Punk gab es etwa das Thema der Drogen mit dem Heroinboom der 80er-Jahre. Da haben mir die Leute Sachen erzählt, die ihnen sehr schaden könnten, wenn es öffentlich wird. Am Ende soll eine historische Forschung der Gesellschaft etwas Positives bringen.

Und beim Bürgerkrieg?

Klar, das ist das urtypische Beispiel. Hier geht es in der Forschung nicht um Vergeltung, sondern darum, den Familien der Opfer eine Stimme zu geben. Das meinte ich auch mit der feinen Linie zwischen Sensationslust und historischer Bedeutung.

Wenn ein junger Historiker in ein paar Jahren einen Aspekt aus unserer Zeit herausgreift, um die vergangenen Jahre zu erklären, über was wird er schreiben?

Ich glaube, es könnte sehr spannend sein zu gucken, wie sich die Kultur in Zeiten der Wirtschaftskrise entwickelt hat. Unter Berücksichtigung der sozialen Netzwerke könnte man auch die Ethik und Moral unserer Zeit

untersuchen.

Wie hat sich denn Ihrer Ansicht nach die Kultur entwickelt?

Viele junge Leute sind nach Jahren auf dem Festland oder im Ausland zurückgekehrt. Sie haben viel Erfahrung mitgebracht und eine Einstellung: Wenn es für uns keine Szene gibt, werden wir uns eben selbst eine schaffen. Ich glaube, dieser Umstand wird von einer breiten Masse der Gesellschaft noch nicht erkannt. Und in ein paar Jahren wird man sagen: Unglaublich, was für aufregende Leute damals auf Mallorca ihr Ding gemacht haben. Wenn wir das jetzt schon erkennen würden, könnten etwa die Bands vor mehr als nur 30 Leuten spielen.

Wie erklären Sie sich, dass es so schwer für Musiker ist, hier ein Publikum zu finden?

Nun, wir haben das gerade im Zuge der Sant-Sebastià-Feierlichkeiten untersucht. Dabei kam heraus, das 70 Prozent der Palmesaner nie oder fast nie auf Konzerte gehen. Es ist eine Minderheit, die aktiv Kultur konsumiert und die muss sich eine wachsende Musikszene auch noch teilen. Dazu kommt, dass Konzerte oder auch Ausstellungen mit anderen Angeboten wie Netflix konkurrieren.

Aber Netflix allein erklärt nicht, dass 70 Prozent der Menschen nie auf Konzerte gehen.

Natürlich nicht. Das ist eine Frage der Bildung. Wenn wir in der Schule nicht wert auf künstlerische und musikalische Erziehung legen, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn da Bürger ohne Interesse an Kultur herauskommen.

Mallorca könnte ein Ort sein, der seine Bürger reich macht und seine Einnahmen klug investiert. Stattdessen haben wir ein kränkelndes Bildungssystem, viele Menschen mit Arbeit am Existenzminimum und ein einseitiges Wirtschaftsmodell. Können Sie als Historiker sagen, wann es schiefgelaufen ist?

Ich glaube, die Ölkrise 1973 war einschneidend. Ich will es mal anhand der Musiker erklären. In den 60er-Jahren hatte jeder eine Chance. Plötzlich kamen viele Touristen, es entstand eine Infrastruktur aus Discos, Pubs und Hotellobbys. Es gab nicht genug Musiker für die vielen Bühnen. Und jeder, egal ob er aus einem mallorquinischen Dorf kam, vom Festland oder aus dem Ausland, konnte mit ein paar Akkorden viel Geld verdienen. Die Ölkrise hat den Tourismus stark beeinträchtigt. Plötzlich hatten die Hoteliers keine Lust mehr, ganze Bands zu bezahlen. Und sie wurden durch DJs ersetzt. Das hat natürlich auch viele Folgen für die hiesige Musikszene gehabt.

Wo wir gerade bei der Musik sind. 1968 kam Jimi Hendrix, damals einer der größten Rockstars der Welt, auf die Insel. 2017 waren die größten Stars Tom Jones und Placebo, deren Hits viele Jahre zurück liegen. Woran liegt das?

Mallorca als Elefantenfriedhof, das ist ein interessanter Gedanke. Die Insel­lage spielt natürlich eine Rolle, aber allein daran liegt es nicht

Was ist es dann?

Wir dürfen nicht vergessen, dass wir uns im Mittelmeerraum befinden sind. Unsere DNA ist geprägt von Händlern und Kaufleuten, die herkamen, um Geschäfte zu machen. Wir sind trotz allem eine konservative Gesellschaft. Und das auch im Geschäftlichen. Wenn man mit einem abgehalfterten Sänger mehr Geld machen kann, dann wird man sich überlegen, wie wichtig es einem ist, in einen aufstrebenden Star oder auch eine etablierte Rockband zu investieren.

Was aber sagt es über eine Gesellschaft aus, die lieber zu alten Hits tanzt als zu der Musik der Zeit, in der sie lebt?

Nun, das ist ja nicht nur hier so. Sonst hätten Tribute-Bands nicht so viel Erfolg. Aber die konservative Mentalität findet sich auch beim Konsumenten. Bei einem Konzert einer Dire-Straits-Tri­bute-Band kenne ich die Songs und kann mitsingen. Bei einer aufstrebenden Indie-Band vom Festland nicht. Da überlegt man sich, wofür man das Geld ausgibt.

Wie bewertet der Musikkritiker Tomeu Canyelles die mallorquinische Musikszene zurzeit?

Sie ist sehr vielfältig, es gibt viel Qualität. Aber es fehlt an Nachwuchs. In meiner Generation gibt es viele hervorragende Musiker, weil früher jeder irgendwie ein Instrument spielte. Teilweise gelten Leute in meinem Alter als Veteranen, und so alt sind wir auch nicht. Aber bei den Jüngeren gibt es allenfalls Ausnahmen wie etwa die Band Go Cactus. Im Bereich der Elektro-Musik ist es ein wenig anders. Aber wir brauchen dringend frischen Wind.