Es ist die unbegleitete Fahrradfahrt durch den Wald bis zu ihrer Grundschule in Berlin-Reinickendorf, die ihr als Erstes durch den Kopf schießt, wenn man sie nach ihren frühesten Kindheitserinnerungen fragt. Sandra Seeling, die 34-Jährige, die praktisch im Alleingang auf Mallorca ein internationales Filmfestival aus der Taufe gehoben hat und dafür an diesem Donnerstag (31.5.) einen Preis der Mallorca Zeitung erhält, verbrachte ihre ersten Lebensjahre am Tegeler See. „Ein Kindheitsparadies" sei das gewesen, sagt die Tochter eines Heizungs- und Sanitärinstallateurs, der nach dem Verkauf seiner Firma auf Immobilien umsattelte.

Der Vater reiste viel, und so beschloss die Familie 1994 dorthin zu ziehen, wo sie ohnehin schon jeden Urlaub verbrachte: Mallorca. Für die damals Zehnjährige war das eine traumatische Erfahrung der Fremdheit, vor allem weil sie in ihrer neuen Schule - der englischsprachigen Privatschule Baleares International School - zunächst kaum ein Wort verstand.

Spanisch sollte Sandra Seeling erst im Ponyhof Calvià lernen, in dem sie nach der Schule so gut wie jeden Nachmittag verbrachte. Dort lernte sie auch zwei mallorquinische Gleichaltrige kennen, mit denen sie bis heute befreundet ist: Magdalena, die das deutsche Mädchen damals in die sonntäglichen Familiengelage der Insel einführte, und Pau Vich, der ihr heute als Geschäftsführer des Filmfestivals beiseite steht.

„Immer machen lassen"

Von den anfänglichen Sprachproblemen abgesehen, war es ein privilegiertes Aufwachsen in Santa Ponça und Umgebung. „Meine Eltern haben mich immer machen lassen, sie haben mir vertraut", sagt Sandra Seeling per Whatsapp auf dem Handy-Bildschirm (bis vergangene Woche weilte sie noch in Mammoth Lakes, Kalifornien, wo ihr neuer Kurzfilm „Fay Away" auf einem anderen Festival Premiere feierte). Schon als 13-Jährige sei sie allein mit dem Motorroller durch Santa Ponça gekurvt. „Ich kann dich nicht den ganzen Tag herumkutschieren", habe ihre Mutter zu ihr gesagt.

Eines Tages, sie war gerade mal 16, erzählte ihr ein Freund, dass er zu einem Casting einer deutschen Fernsehserie eingeladen worden war. Sandra Seeling horchte auf, schließlich liebte sie die Geschichten über ihre Großeltern väter­licherseits: sie eine Primaballerina an der Dresdner Oper, er ein Schauspieler an der Berliner Volksbühne. Sandra Seeling ging aus Neugier mit. Beim Casting sprach sie dann ein Mitarbeiter der Produktionsfirma an. Ob sie nicht auch einmal vor die Kamera treten wolle.

Statt des Freundes bekam schließlich Sandra Seeling eine Rolle in „Mallorca - Suche nach dem Paradies", einer Vorabend-Serie mit 200 Episoden, ausgestrahlt von Pro7 zwischen April 1999 und Januar 2000. Sandra spielte Jasmin, die Freundin von Lukas, dem 16-jährigen Sohn einer der Hauptfiguren - und war bald auch im echten Leben die Freundin dessen Darstellers, ­Vinzenz Kiefer. Sandra Seeling hatte in die Welt der Schauspielerei gefunden.

Die heile Welt der auch noch bildhübschen Deutsch-Mallorquinerin zerschellte am 9. August 2000. Zusammen mit zwei weiteren Mallorca-Residenten starb ihr Vater bei dem Absturz eines Kleinflugzeuges bei Darmstadt. „Von da an wollte ich nur noch weg", sagt Sandra Seeling. Nur wenige Tage nach ihrem Schulabschluss setzte ihre Mutter sie 2001 in New York ab - die Schauspielausbildung an der renommierten Lee-Strasberg-Schule hatten Sandra und ihr Vater noch in einem ihrer letzten Gespräche gemeinsam ausgesucht.

„Mit 18 auf mich allein gestellt in New York - es war unglaublich aufregend, ich war regelrecht erschlagen von den Eindrücken", sagt Sandra Seeling. Sie blieb drei Jahre und wechselte dann nach Los Angeles - ein Agent hatte ihr nach einem zweiwöchigen Workshop einen Vertrag angeboten, der dann auch die ersehnte Arbeits­erlaubnis mit sich brachte.

„Kontrolle wiedererlangen"

Der große schauspielerische Durchbruch blieb aus. Als es gerade mit ein paar kleineren Rollen und Gastauftritten losging, etwa in der TV-Serie „CSI", traten ­Hollywoods Drehbuchschreiber in den Ausstand, mehrere Projekte platzten. Hinzu kam, dass sie für die „immer gleiche Rolle der Deutschen" gecastet wurde. Überhaupt die Castings: Es zermürbt, sich in einem knallharten Wettbewerb in den allermeisten Fällen erfolglos präsentieren zu müssen. „Ich brauchte etwas, um mich wieder gut und wertvoll zu fühlen und die Kontrolle wiederzuerlangen", sagt Sandra Seeling, die nebenher auch als Kellnerin und Model jobbte. 2009 drehte sie ihren ersten eigenen Kurzfilm: „Going Down".

Schon 2002 hatte Sandra Seeling bei einem Schauspiel-Workshop auf Mallorca Rainer Lipski, einen deutschen Kameramann, kennengelernt. Richtig knistern tat es dann erst Jahre später, 2008 in einem Sommer in Berlin. Lipski - die beiden sollten 2010 heiraten - ermunterte Sandra Seeling, noch einmal zur Schule zu gehen: Ein Jahr lang lernte sie an der Los Angeles Film School das Regie- und Produktions-Handwerk.

2012 war ein zweiter Kurzfilm fertig: In „My Mother" besucht eine deutsche Mutter ihre im Haifischbecken Los Angeles herumkrebsende 30-jährige Tochter, die Filmemacherin Paula (Sandra Seeling). Sandra Seeling tingelte damit durch die Nachwuchs-Festivals und fand dabei nicht nur am Festival-Networking Gefallen, sondern auch an der Idee, den autobiografisch eingefärbten Film auf Mallorca zu zeigen.

Doch da gab es ein Problem: Auf Mallorca gab es zu diesem Zeitpunkt gar kein internationales Filmfestival. Sandra Seeling sah darin eine Chance. Im Frühsommer 2012 stellte sie auf der Insel mallorquinischen Filmschaffenden erstmals ihr Konzept eines Nachwuchsfestivals vor, das damals auch noch Ableger in Ägypten und Hollywood hatte. Außer Pau Vich, ihrem Freund aus Ponyhof-Zeiten, klatschte kaum einer der Gesprächspartner vor Begeisterung in die Hände. Ein anderes Festivalprojekt war damals auf der Insel gerade spektakulär gescheitert. Auf die Mallorca-Deutsche mit dem überschäumenden US-Optimismus hatte auf der Insel niemand gewartet.

Doch Sandra Seeling zog ihr Ding mit ihrer offenen Art und ihrem Selbstvertrauen trotzdem durch: „Ich sagte mir, ich mache das aus meiner Perspektive. Was ich gelernt habe, versuche ich jetzt auf Mallorca umzusetzen." Das erste Evolution Mallorca International Film Festival (EMIFF) fand vom 21. bis 25. Oktober 2012 im Kino Augusta in Palma statt. Es waren nur sieben Filme in Spielfilmlänge dabei, doch Sandra Seeling konnte renommierte Regisseure und Schauspieler wie die Österreicherin Feo Aladag oder die Spanierin Emma Suárez als Gäste gewinnen.

„Jetzt müssen wir wohl weitermachen", hätten sich Pau Vich und sie am Abschlussabend gesagt, und tatsächlich ist das Evolution Mallorca International Film Festival seither von Jahr zu Jahr ein kleines Stück weiter gewachsen: mehr Einsendungen, mehr Filme, mehr Workshops, mehr Zuschauer. 2016 war mit Schauspieler Danny DeVito auch erstmals ein internationaler Star zu Gast. Vor allem aber: Das Festival hat sich einen ausgezeichneten Ruf in der weltweiten Filmindustrie erworben. Das Branchenmagazin „Movie Maker" setzte es kürzlich auf seine Liste der „weltweit 50 Festivals, die das Geld der Einschreibung wert sind". „Wir bringen eine Internationalität auf die Insel, die es so vorher nicht gegeben hat", sagt Sandra Seeling.

Und das alles, zumindest am Anfang, ganz ohne Förderungen: Wenn dann mal Geld geflossen sei, hätten es oft zunächst einheimische Projekte bekommen. Denn das kommt hinzu: Sandra Seeling lebt bis heute nicht auf der Insel, sondern weiter in Los Angeles, wo sie in der Off-Szene im Schatten der großen Hollywood-Studios vernetzt ist, wo ihr Mann als Kameramann gut zu tun hat und wo sich auch weitere Chancen ergeben: Sandra Seeling arbeitet mittlerweile auch als Programmgestalterin für andere, größere Filmfestivals wie das von San Francisco.

Auf Mallorca ist es nicht mehr lange hin bis zum nächsten Evolution vom 25. bis zum 31. Oktober. Sandra Seeling sieht wieder einen Berg vor sich, den sie „mit einem zehn Kilo schweren Rucksack" auf dem Rücken erklimmen muss. Noch immer sei nicht klar, wie viele öffentliche Zuschüsse es geben wird und ob sich nicht vielleicht doch der dringend benötigte große private Sponsor findet, der dabei hilft, ein im Vergleich zu anderen Festivals lächerlich geringes Budget von 130.000 Euro zu stemmen.

Sie denke jetzt häufiger darüber nach, wieder nach Mallorca zu ziehen, sagt sie, dem Festival zuliebe. Ihre Mutter lebt weiter auf der Insel, ebenso wie ihr acht Jahre älterer Bruder, der damals gar nicht mit der Familie umgezogen war und erst vor wenigen Jahren ein Land­hotel in Sóller übernahm. Für Sandra Seeling wäre es eine Heimkehr.