Vage Erinnerungen an einen entführten Jungen – die Schwedin Charlotte Gyllenhammar fragte sich jahrelang, ob der Spuk in ihrem Kopf nicht Auswüchse der Fantasie ihrer Kindheit waren, und machte dann eine überraschende Entdeckung. Unter dem Titel „Die Zuschauer" zeigt sie das Ergebnis ihrer Nachforschungen künstlerisch überarbeitet in der Gruppenausstellung „Mythos der Kindheit", die im Centro Cultural Andratx (CCA) eröffnet hat. 16 Künstler aus 11 Ländern interpretieren das Thema in dem CCA-typischen großzügigen Raumkonzept, kratzen an der idyllischen Oberfläche und holen vergessene Monster hervor.

In den USA stieß Gyllenhammar auf eine Person, die den entscheidenden Hinweis gab: 1973 wurde in Italien der Enkel des Ölmilliardärs Paul Getty entführt, das Drama hielt die Welt in Atem. Im Kopf der Schwedin waren Nachrichten und Fernsehbilder hängen geblieben und hatten ihr Unterbewusstsein durchwandert, waren immer wieder ins Bewusstsein gestoßen und hatten eine dauerhafte Unruhe hinterlassen.

Gyllenhammar spürte in Archiven Pressefilme auf und machte eine Installation daraus: Die kurze Szene mit dem befreiten, sichtlich traumatisierten Opfer, dem die Entführer in der zweimonatigen Gefangenschaft das Ohr abgeschnitten hatten, wird vor einem „Publikum" aus mehreren Kleinkinder-Figuren ständig neu abgespielt. „Wenn solche Bilder einmal in dir drin sind", sagt Gyllenhammar, „gibt es kein Zurück." Auch ein Kommentar zur Flut horrender Nachrichten, denen Kinder heute ausgesetzt sind.

Auf andere Weise berührend ist der Ansatz des Russen Sergey Bratkov: Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, fertigte er Fotodossiers für Eltern an, die ihre Kinder bei Model-Agenturen vorstellen wollten. In „Myth of Childhood" ist eine Auswahl von Bildern aus diesen Dossiers zu sehen: minderjährige Mädchen, von ihren Eltern „attraktiv" aufgemotzt, in Posen, die diese Kinder selbst für „modellhaft" hielten und so ungewollt zu Karikaturen einer Welt billiger erotischer Anspielungen und des Scheins wurden. Symbol auch für jene Gebietsverluste, die das Territorium Kindheit hinnehmen muss, ohne dass Greenpeace dagegen protestieren würde.

Einen besonders tragischen Hintergrund hat die Arbeit „Flashback" des Schweizers Hans Witschi. Er war als Kleinkind an Polio erkrankt und, wie es damals in der Schweiz üblich war, in ein Heim für geistig und/oder körperlich behinderte Kinder eingeliefert worden. Als Künstler kehrte Witschi in jenes Heim zurück, in dem er 16 Jahre verbringen musste, und suchte im Archiv die alten Fotos der Kinder heraus, mit denen er damals gelebt hatte. Diese Bilder – 54 sind es insgesamt – verarbeitete er zu einer Gemäldecollage. In den Gesichtern lassen sich nicht nur Krankheit und Behinderung ablesen, sondern auch die Sehnsucht nach Kindheitsglück.

Einen infamen Hinterhalt legt der Deutsche Michael Kalmbach mit „Der große und der kleine Paul", einem vermeintlichen Kinderbuch, das in Einzelbildern ausgestellt wird. Was aus der Ferne wie eine typische Bildergeschichte für Kinder wirkt, entpuppt sich aus der Nähe als Horrorstory über Ende und Neubeginn einer Welt, die vom Größenunterschied ihrer Bewohner geprägt ist: große und kleine Pauls. Speziell den Part mit der Sintflut sollte man nicht kurz vor dem Essen ansehen.

Dies sind vier von elf Teilbereichen einer Ausstellung, die exemplarisch das Beste bietet, was zeitgenössische Kunst können sollte: einen neuen Blick auf ein bekanntes Thema zu werfen.

„Myth of Childhood", CCA Andratx, bis 26.7., Tel.: 971-13 77 70.