Jorge Luis Borges und Mallorca – es war sein Vater, Jorge Guillermo Borges, der den angehenden Schriftsteller Anfang der 20er Jahre auf die Insel lockte. 1921 schrieb Jorge Guillermo, ein argentinischer Rechtsanwalt und Philosophie-Dozent, auf Mallorca den Roman „El Caudillo", damals von der mallorquinischen Druckerei Guasp herausgegeben und vor kurzem von Ediciones Cort neu aufgelegt. Sein Sohn, der zuvor in der Schweiz zur Schule gegangen war, lebte mit ihm auf der Insel und schloss Freundschaft mit dem Poeten und Künstler Jacobo Sureda. Auf Mallorca schrieb er auch sein erstes veröffentlichtes Gedicht, „Himno al mar" (Hymne ans Meer).

Viel später, in den 70er Jahren, kehrte er noch einmal zurück, um am Schauplatz seiner Jugend insbesondere die Familie Sureda in Valldemossa zu besuchen (siehe Kasten). An diese und andere Reisen des großen Schriftstellers erinnert jetzt die Ausstellung „El Atlas de Borges" im Kulturzentrum La Misericòrdia in Palma. Zur Eröffnung der Schau, die bereits in Madrid, Paris, Genf, Berlin und Almería zu sehen war, kam vergangene Woche auch María Kodama, Schülerin und spätere Ehefrau von Borges. Seit 1988, also zwei Jahre nach dem Tod des Literaten, leitet sie die Internationale Jorge Luis Borges-Stiftung und versteht sich seither als Hüterin der Hinterlassenschaft des weltberühmten Erzählers und Fantasten („Das Aleph", „Die Bibliothek von Babel").

Kodama war es auch, die Borges über Jahrzehnte hinweg auf seinen Reisen begleitete. Schon das Foto, das heute das Ausstellungsplakat ziert, ist kurios und symbolbefrachtet. Während des Mallorca-Besuchs in den 70er Jahren entstanden, stellt es die Grundsituation auf den weltweiten Reisen dar, die Jorge Luis Borges nach seiner vollständigen Erblindung um 1950 unternahm: Während er die markante Kopfhaltung eines Sehbehinderten zeigt, der die Umwelt mit den übrigen Sinnen wahrnimmt, unternimmt María Kodama den visuellsten Akt überhaupt: Sie knipst ein Foto. Es ist offensichtlich, dass in beider Köpfen sehr Unterschiedliches vorgehen muss. Kodama erzählt denn auch, dass sie immer wieder überrascht war von Borges´ Reaktionen, Einfällen und Bezugnahmen.

Ein schönes Beispiel dafür ist eine Begebenheit in Ägypten. Wenige hundert Meter von den Pyramiden entfernt nimmt Borges eine Handvoll Sand auf, geht ein paar Schritte, lässt den Sand „leise zu Boden rieseln" und sagt: „Ich habe die Sahara verändert." An diesem Gedanken fand der Literat so viel Freude, dass der Moment, wie er später schreibt, „zu den wichtigsten seines Aufenthaltes in Ägypten" gehört.

Wie muss man sich das Zusammenspiel des in vielfacher Hinsicht ungleichen Paares vorstellen? Im Gespräch mit der MZ erinnert María Kodama an die immense Bildung des Literaten. „Er wusste schon in jungen Jahren, dass seine Sehkraft nachlassen würde, denn es handelte es sich um eine unheilbare Erbkrankheit. Daher nahm er, solange er konnte, alles Visuelle mit umso mehr Intensität und Leidenschaft auf."

Die großen Museen, die wichtigen Kunstwerke, die bedeutendsten Baudenkmäler hatte Borges fotografisch im Kopf. „Als wir in der National Gallery in London vor einem Selbstporträt Albrecht Dürers standen, nahm er die dargestellte Postur ein, noch bevor ich das Bild beschreiben konnte", berichtet Kodama. Die Bezugnahme auf Farbtöne und Stimmungen auf Gemälden dienten ihr auch, wenn sie Borges unterwegs Ansichten beschrieb.

In Genf, wo er von 1914 bis 1921 gelebt hatte, kannte der Schriftsteller jeden Winkel, „er zeigte mir die Stadt". Dasselbe erlebte Kodama in der Altstadt von Palma. Obwohl sich das Erlebnis Reisen für „normale" Reisende vor allem aus visuellen Eindrücken nährt, verspürte sie bei ihm keine Verbitterung über die Erblindung. „Er hat sich nie leid getan." Nicht einmal, als sie bei einem Besuch in Granada eine Inschrift erwähnte, die vor einem alten Wachturm in Stein gemeißelt war. „Er drängte mich, sie vorzulesen, aber ich war momentan entsetzlich ratlos, hatte Angst, ihn zu verletzen." Denn die Inschrift gab ein berühmtes Zitat wieder: „Es gibt nichts Schlimmeres im Leben, als ein Blinder zu sein in Granada." Borges war es dann, der seine Beg­leiterin trösten musste.

„El Atlas de Borges", 160 Reisefotos aus dem Album von Jorge Luis Borges, La Misericòrdia, Palma,

bis 15.11., Tel.: 971-21 95 00.

In der Printausgabe lesen Sie außerdem

- Eröffnung mit Nacho Vegas: Cool Days Festival in Artà

- Pool, Probe, dann ab zum Konzert: Jugendorchester Camarata Academia