Er ist ein Intellektueller und zugleich das Gegenteil. Dietrich Klinge hat auf einem Schrottplatz gerackert, Nachtschichten in einer Druckerei geschoben, an einem Postschalter gesessen und in Fabriken die Welt der Maschinen erkundet. In seinem anderen Leben, das parallel verlief, wenige Stunden und Kilometer von dieser industriellen Existenz entfernt, studierte er an der Kunstakademie, lernte bei Meistern wie Alfred Hrdlicka und nahm achselzuckend zur Kenntnis, dass er von Studenten aus wohlhabenden Familien umgeben war.

Seine Besessenheit: beide Existenzen miteinander zu verbinden. Zu verstehen, was das Dasein ausmacht. Es darzustellen, ohne es zu sagen. Heute ist Klinge ein international anerkannter Bildhauer, dessen zum Teil gewaltige Bronze-figuren das Publikum faszinieren. Ab Samstag (10.4.) öffnet das Kunstmuseum Es Baluard seinen umgewidmeten unterirdischen Wasserspeicher aus dem 17. Jahrhundert, den sogenannten aljub, und erlaubt dem Besucher, sich unter Klinges rätselhafte Wesen zu mischen, die dort unten so etwas wie ein geheimes Treffen abhalten.

Klinge (56) ist eine groß gewachsene Gestalt, ein gelernter Einzelgänger, der sich immer am Rande fühlt und zugleich mittendrin. „Das Hier und das Anderswo", sagt er, „war von Anfang an mein Thema, hat mich immer fasziniert." Das ist ein wiederkehrendes Muster bei ihm: Aus einem banal erscheinenden Satz erwächst ein Gedankenkonstrukt, das immer komplexer wird, und so heftig Klinge auf der Tischplatte auch seine unsichtbaren Diagramme malt – man versteht, warum er Bildhauer geworden ist und nicht Essayist.

Hier und Anderswo, das war für seine Mitstundenten vor allem der Gegensatz Europa und Dritte Welt, doch für ihn, Sohn von DDR-Flüchtlingen, Student aus einfachen Verhältnissen, war das Hier und Anderswo seine zweigeteilte Existenz. Die Dualität setzte sich fort: Auch wenn er in der Fabrikhalle an einer Maschine stand, war er hin- und hergerissen zwischen der Faszination fürs Mechanische und die philosophischen Implikationen. „Diese extreme Arbeitsteilung führt direkt zur Entfremdung, man versteht die Dinge nicht mehr ganz, erlebt nur als Konsument das Resultat oder als Arbeiter einen kleinen Teil des Entstehungsprozesses."

Seine Beobachtungen formuliert er zunächst in Radierungen. Er stellt Figuren dar, wenn sie „hier und anderswo" sind, in Form von Bilderserien, von Diptychons und Triptychons. Eine Zeit lang macht er nur noch Fotos, vor allem von Arbeitern in einer Fabrik. Er dreht sogar einen Film, 43 Minuten lang, 16 Millimeter, der handelt nur von einem Arbeiter an einer Exzenter-Presse, der am Schluss des Films mit der Straßenbahn nach Hause fährt. Von Hier nach Anderswo. Um auf diese Entfernung-Entfremdung aufmerksam zu machen. Um die Sinne zu schärfen für die eigentliche, die tiefere Bedeutung des Handelns und der Dinge.

In diesem Universum, in dem jedes Objekt über seine Geschichte, Vorgeschichte, Urgeschichte und Zusammenhänge mit allem anderen zu einem unglaublich komplexen Leben erwacht, erarbeitet Klinge seine groben, einfachen Skulpturen, zunächst aus Holz, dann in Bronze gegossen, „weil das Material im Unterschied zum Holz eine klar definierte Oberfläche hat".

Riesen­dinger, und zugleich subtile Kommentare. „Gordian VII" etwa, dem nichts zu fehlen scheint, dabei ist ein riesiges Stück aus ihm herausgerissen. Unser geistiges Auge akzeptiert, ja ersetzt das Fehlende, womit klar wird, warum auch im Leben riesige Stücke fehlen können, ohne dass man es bemerkt.

Klinge sieht sich manchmal in einem Gedankenstrudel gefangen. „Man muss diese Geschichten permanent wegdrücken, sonst wird man ja irre." Zugleich überwältigen ihn die Gefühle, wenn er über eine 4.000 Jahre alte ägyptische Plastik erzählt, die er besitzt: Sich bewusst zu werden, wie sie entstand, wer sie schon in Händen hielt, was es bedeutet, sie zu bewahren, um sie später weiterzugeben – Klinge seufzt: „Eine größere Intensität kann es gar nicht geben."

So sitzt er auf seinem virtuellen Beobachtungsturm inmitten einer Kultur der extremen Gegenwart, des Billigen, Schnellen, Wegwerfbaren, fasziniert wie ein Forscher, daher auch distanziert. Klinge ist hier. Und gleichzeitig anderswo.

Dietrich Klinge. „Transformacions", Museum Es Baluard, 10.4. - 6.6., Tel.: 971-90 82 01.

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