Nissim Karelitz gilt als harter Brocken. In Bnei Brak bei Jerusalem überwacht der orthodoxe Rabbiner die Konvertierung von Nichtjuden zum Judentum – ein Prozess, der anders als bei Islam und Christentum so hart und langwierig ist, dass ihn nur zutiefst überzeugte Anwärter erfolgreich abschließen.

Umso überraschender kam die Nachricht, dass Karelitz, Mitglied eines einflussreichen Rabbinatsgerichtes, die xuetes als Juden anerkennt. Die Neuigkeit, die vorige Woche zunächst von „El País" und danach von internationalen Medien wie der „New York Times" aufgenommen wurde, ist eine historische und religiöse Sensation.

Die xuetes sind die Nachfahren mallorquinischer Juden, die im frühen 15. Jahrhundert zum Christentum zwangskonvertiert wurden. Die meisten sind praktizierende Katholiken oder haben mit Religion nichts am Hut. Dennoch bekannte zum Beispiel Josep Pomar, ehemaliger Direktor der Gesundheitsbehörde IB Salut, Mitglied der xueta-Stu diengruppe „Memòria del Carrer" und erklärter Agnostiker: „Die Nachricht hat mich sehr berührt. Und ich halte sie für ein absolut positives Signal."

Sollte sich der Standpunkt des Rabbiners in den übergeordneten religiösen und staatlichen Instanzen durchsetzen, was aufgrund seines Ansehens als wahrscheinlich gilt, hätte dies tief greifende Folgen: Mallorquiner aus xueta-Familien könnten einen Flug nach Tel Aviv buchen und quasi bei ihrer Ankunft im Blitzverfahren einen israelischen Pass erhalten.

Denn Israel versteht sich als Schutznation einer Glaubensgemeinschaft, die überall sonst eine Minderheit darstellt. Laut dem „Rückkehrergesetz" haben Juden und deren unmittelbaren Angehörige das Recht auf Staatsbürgerschaft, sobald sie den Boden des Heiligen Landes betreten.

Wer dem Glauben nicht angehört, muss – wie in anderen Ländern üblich – jahrelange Wartefristen auf sich nehmen, bevor er um die Staatsbürgerschaft ansuchen kann. Oder konvertieren.

Bezüglich der Frage, wer als Jude gelten darf und wer nicht, legen orthodoxe Rabbinatsgerichte sehr strenge Kriterien an. Was die Nachfahren der Konvertiten auf Mallorca von denen anderer Regionen unterscheidet, ist der Umstand, dass sie sich bis tief ins 20. Jahrhundert hinein kaum mit dem Rest der Bevölkerung vermischt haben. Das hat mit der Stigmatisierung dieser Bevölkerungsgruppe zu tun, aber zum Teil auch mit deren eigener Abschottung.

In seinem Stammbaum ist Josep Pomar auf einen einzigen Nicht-xueta namens Flores gestoßen. Und auch der war stigmatisiert: „Der erste Flores kam 1720 nach Palma und heiratete eine xueta. Damit war der Name ´beschmutzt´, kein Flores fand mehr einen christlichen Ehepartner."

Die nahezu perfekte Endogamie über Jahrhunderte hinweg hat wohl zur Anerkennung durch den Rabbiner beigetragen. Sollte dessen Meinung offiziell werden, bleibt abzuwarten, mit welchem konkreten Familienhintergrund ein Aguiló, Miró oder Pomar aus Mallorca tatsächlich als Jude im Sinn des Rückkehrergesetzes anerkannt würde.

Der Mehrheit der geschätzten 7.000 bis 8.000 xuetes ist das vollkommen egal. Eine Handvoll Insulaner könnte jedoch von der neuen Möglichkeit tatsächlich Gebrauch machen. Laut Pomar besuchen derzeit 10 bis 15 xuetes Kurse über die jüdische Religion, also ein kleiner Teil der rund 100 Mallorquiner, die sich derzeit aktiv mit ihrem jüdischen Familienhintergrund auseinandersetzen.

Sie wären nicht die ersten, die sich auf ihre Wurzeln besinnen würden: Vor mehr als 30 Jahren übersiedelte ein Mallorquiner namens Nicolau Aguiló nach Israel, konvertierte zum Judentum und kehrte als Rabbi Nisan Ben-Abraham wieder zurück. Heute arbeitet er für Shavei, eine Organisation, die Nachfahren zwangskonvertierter Juden zum Glauben zurückführen will und auch auf Mallorca aktiv ist.

Der Prozess einer kollektiven Rückbesinnung begann vor etwa zehn Jahren mit Vereinigungen wie „Memòria del Carrer" oder „Llegat jueu" im Umfeld der Kultur-Organisation Arca. Davor hatten sich die Nachfahren der Konvertiten mit diesem Thema im stillen Kämmerlein befasst.

Mit gutem Grund: Es ist nicht lange her, dass der volkstümliche Sammelbegriff als böses Schimpfwort galt. „Noch in den 70er Jahren hätte es kein Erwachsener gewagt, mich als xueta anzusprechen", erzählt Pomar. „Wir selbst waren es, die in den vergangenen Jahren den Begriff in die Gespräche einbrachten und ihm damit die Spitze genommen haben." Als höfliche Umschreibung wurde früher die Ausdrücke del carrer oder de la calle (wörtlich: von der Straße) verwendet, in Anspielung auf den Namen des historischen Judenviertels „Call" in Palma.

„Heute ist das Stigma definitiv überwunden", meint der 55-jährige Arzt und langjährige Spitzenbeamte der Balearen-Regierung. Doch ist ihm wichtig, dass „alle Inselbewohner über die jahrhundertelange Unterdrückung Bescheid wissen." Dazu trage Karelitz ebenso bei wie der gerade abgewählte sozialistische Balearen-Premier Francesc Antich. Im Mai hatte er als erster offizieller Repräsentant der Balearen die Verfolgung der xuetes öffentlich anerkannt: „Es war unsere schwerste Sünde", formulierte er.

Was die Konsequenzen des Karelitz-Urteils betrifft, weist der Künstler Jaume Pinya darauf hin, dass doppelte Staatsbürgerschaft nichts Neues sei auf Mallorca. In Sóller zum Beispiel hätte seinerzeit so mancher die Familienbeziehungen mit Frankreich genutzt, um seinen Söhnen den Militärdienst zu ersparen.

So betrachtet wären allerdings eher Israelis an einer spanischen Staatsbürgerschaft interessiert als umgekehrt: Männer leisten dort drei Jahre Wehrpflicht.

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