Einer der merkwürdigsten damaligen Inseldeutschen muss wohl Georg Bernstein gewesen sein. Der 50-jährige Kaufmann mit dem markanten Buckel kam 1929 aus Algerien nach Palma, hatte lediglich einen Koffer bei sich, mietete ein billiges Hotelzimmer, ernährte sich von Brötchen und Marmelade, ließ sich kaum blicken und war stets allein. Der scheinbar verarmte Besucher starb schließlich an einer Embolie. Doch als man seine Habseligkeiten einsammelte, fand man in der Kleidung seinen „Buckel". Überraschung: Das künstliche Körperteil enthielt 10.000 Dollar in bar.

Schicksale und Anekdoten wie diese hat der langjährige MZ-Redakteur Martin Breuninger zu Dutzenden recherchiert und zum ersten Buch über die Geschichte der Mallorca-Deutschen in den 30er Jahren verarbeitet. „Vergleiche sind zwar mit Vorsicht zu genießen", sagt der Autor im Interview, „aber damals lebten rund 3.000 Deutsche auf der Insel, womit ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung Mallorcas prozentual ähnlich hoch war wie heute."

Und das, obwohl Reisen damals mühsamer war, und obwohl auch die politischen Zeichen auf Sturm standen. Dieser dramatische Zeitabschnitt vor Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs 1936 bildet denn auch den Rahmen für das Buch „Mallorcas vergessene Geschichte", das nun als Sonderausgabe dieser Zeitung erhältlich ist.

Grundlage war eine Serie, die vor zwei Jahren in der Mallorca Zeitung lief: „Mallorca-Deutsche unterm Hakenkreuz". Schon für diese Arbeit konnte der Journalist einen kompetenten Mitautor gewinnen: Germà Garcia i Boned. Der heute 79-jährige Akademiker ist ein glühender Bewunderer des Schriftstellers Albert Vigoleis Thelen, dessen Mallorca-Roman „Die Insel des zweiten Gesichts" im selben Zeitraum angesiedelt ist, als auf Mallorca nicht nur der Tourismus in Gang kam, sondern auch viele Ausländer ihr Glück suchten – oder einen Zufluchtsort.

Garcia i Boned konnte vor allem mit Dokumentation aushelfen. Unter anderem besorgte er die kompletten Jahrgänge des „Herold", einer deutschen Wochenzeitung, die 1933 und 1934 auf Mallorca erschien und Aufschlüsse über die Residentenszene gab. Doch Breuninger stieß auch in seiner eigenen Familie auf Quellen. „Ich hatte von meinen Eltern erfahren, dass eine mit uns verwandte Familie Esch-Hörle nach Mallorca ausgewandert war." Auf einen von Breuningers Artikel in der Mallorca Zeitung meldete sich ein Gustav Esch, der zu diesem Familienzweig gehörte. Als auf Mallorca sein Onkel starb, lud Esch den Journalisten ein, beim Sichten der Habseligkeiten des Verstorbenen zu helfen. Und dabei stieß Breuninger auf eine Goldgrube: das persönliche Tagebuch einer Mallorca-Residentin der 30er Jahre.

Anhand der Aufzeichnungen dieser anderen Verwandten entdeckte Breuninger unter anderem die detailreiche Bestätigung für eine Episode, die auch in Thelens teilweise fiktivem Roman erzählt wird: 1936 organisierte das Konsulat in Palma die Beteiligung der Inseldeutschen an den Reichstagswahlen. Obwohl im Grunde eine Farce, wurde den Wahlen der Anstrich der Legitimität verliehen: Mit Booten ließ der nazideutsche Konsul Hans Dede die Residenten auf ein Schiff bringen, das in internationale Gewässer fuhr, wo die Stimmen abgegeben wurden.

Mit bekanntem Resultat. Auch die Verstrickungen vieler Inseldeutscher in Machenschaften des Nazi-Regimes und der Gestapo nehmen im Buch viel Raum ein. „Wie Konsul Dede seine Netze spannt und jeder jeden bespitzelt" ist der Titel eines Kapitels. Die „Komplikationen" waren vielfältig. Zum Beispiel bei der damaligen deutschen Schule im Stadtteil El Terreno in Palma, und die natürlich auf Linie gebracht wurde. Was nicht verhinderte, dass es hinter den Kulissen der volksdeutschen Eintracht und Harmonie bald knisterte und krachte. Vor allem beim „Herold" – die Zeitung wurde von zwei Juden herausgegeben. „­Interessanterweise hatten die Ausleger des deutschen Regimes jedoch Hemmungen, offen zum Boykott der Publikation aufzurufen", sagt Breuninger.

Die deutschen Geheimaktivitäten auf der Insel sind unter anderem deshalb gut dokumentiert, weil republikanische Truppen in Barcelona bei einer Razzia eine als Import-Export-Firma getarnte NSDAP-Filiale hochgehen ließen. Die erbeuteten Papiere wurden von einer in Paris erscheinenden deutschen Exilantenzeitung schon damals im Detail ausgewertet, der Autor fand die Ausgaben auf der Internetseite der deutschen ­Nationalbibliothek.

Doch es war eben auch eine interessante Zeit mit schillernden Persönlichkeiten, vom heimlichen Gestapo-Spion bis zur jüdischen Journalistin, von Hungerleidern bis zu Glücksrittern. Oder schrägen Vögeln wie etwa „Käpt´n Jack Bilbo" – so nannte sich ein Deutscher, der behauptete, in den USA als Leibwächter von Al Capone gearbeitet zu haben.

Mit diesem Buch wollte Breuninger „eine Geschichte erzählen, die zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist". Wobei er dem Vorher und Nachher ebenfalls Rechnung trägt. „Man fragt sich ja, wie diese deutsche Community entstanden war, und was nachher aus den herausragenden Persönlichkeiten geworden ist." So folgte ­Breuninger etwa der Spur von Konsul Hans Dede. Die verläuft sich in den 70er Jahren auf den Galapagos-Inseln …

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