Er war ein Sammler, ein Besessener, der aufspüren wollte, was vom Aussterben bedroht war und heute großteils auch ist: das traditionelle Liedgut der Menschheit. Mit seiner Arbeit war der US-amerikanische Musikologe Alan Lomax (1915-2002) der Unesco voraus. Dort entstand der Begriff des immateriellen Welterbes erst 1990, Lomax dagegen bereiste schon ab den 30er Jahren und über sechs Jahrzehnte hinweg die Kontinente mit Aufnahmegerät, Kamera und Notizblock. Auch Mallorca, Ibiza und Formentera lagen auf seiner Route. Die Dokumente der Balearen sind Teil einer Sammlung, die nun online gestellt wurde.

Es war 1952, als Alan Lomax zu einem Folklore-Festival nach Palma reiste. Dabei entdeckte der studierte Philosoph und Sohn des Folkloristen John Lomax den Liederreichtum der Inseln. Er blieb mehrere Monate, begleitete Sänger und Musiker in ihre Dörfer und drückte den Play-Knopf seines Tonbandgerätes, wenn sie Dresch-, Ernte-, Wiegen- oder Kinderlieder sangen. Anekdoten, Interviews und Geschichten, die während der Aufnahmen erzählt wurden, nahm Lomax ebenfalls auf. Später bereiste er auch Regionen wie Murcia, Valencia und Andalusien.

Auf seinen Reisen machte Lomax auch Fotos. Auf Mallorca zeigen diese nicht nur Männer und Frauen beim Singen oder mit ximbomba, Flöte und Trommel, sondern auch bei der Feld- oder Hausarbeit, also Alltagssituationen, die bis in die 1960er Jahre hinein von speziellen Liedern begleitet wurden. Auch attraktive Frauen stellte Lomax vor die Kamera: Die ungeschminkten Dorfschönheiten beeindruckten ihn offensichtlich.

Der amerikanische Verein Cultural Equity, dem Lomax´ Tochter Anna vorsteht, hat alles das nun unter dem Namen „Global Jukebox" zur kostenlosen Nutzung ins Netz gestellt. Zuvor hatten Mitarbeiter in jahrelanger Arbeit das Archiv des unermüdlichen Forschers und Reisenden digitalisiert. Zehn Jahre nach dem Tod von Alan Lomax sind nun 5.000 Stunden Tonbandaufnahmen, 150.000 Meter Film, 200 Stunden Interviews und 5.000 Fotos zugänglich. Ab Ende Februar soll man alle 17.400 Audiodateien – Lieder, Sprechchöre, Instrumentalstücke, Gebete etc. – per Streaming komplett hören können: Sie sind nicht zum Herunterladen freigegeben, aber man kann ihnen online lauschen.

Der Verein will demnächst auch CDs verkaufen. Ein kleiner Teil der Aufnahmen ist bereits seit Längerem auf dem Musikmarkt. Er wurde von den Labels Rounder und Atlantic publiziert und stammt aus der Sammlung der amerikanischen Library of Congress, wo das Alan-Lomax-Archiv in seiner analogen Form bewahrt wird.

Die Webseite des Vereins vermittelt einen Eindruck von der Bedeutung dieses Lebensprojektes: Da stehen gesprochene Spirituals aus Trinidad und Tobago neben Liedern zur Olivenernte aus Mallorca, Hymnen aus Alabama neben einem mongolischen Kinderlied mit dem Titel „Als ich so klein war wie ein Daumen".

Kein Wunder, dass die US-Raumfahrtbehörde Nasa den Wissenschaftler 1977 bat, beim Zusammenstellen des Repertoires der sogenannten „Voyager Golden Records" zu helfen: Vergoldete Kupferscheiben, die den gleichnamigen Raumsonden mitgegeben wurden, sollen bei einem Kontakt mit Außerirdischen die Kultur der Menschheit darstellen. Auf den Scheiben waren nicht nur Bach, Beethoven und Mozart zu hören, sondern auf Anraten von Lomax neben Chuck Berry und Louis Armstrong auch die Musik der Navajo-Indianer, Panflöten aus den Anden, sizilianische Minenlieder, polyphone Vokalmusik aus Zaire und bulgarische Hirtenlieder.

Lomax war in den 70er Jahren schon als der Mann bekannt, „der Folk den Massen nahebrachte". Ohne seine Feldaufnahmen wäre weder die Folkmusik der 1960er Jahre noch die von Peter Gabriel und David Byrne populär gemachte World Musik denkbar.

Anna Lomax, Nachlassverwalterin ihres Vaters, sagte jüngst zur „New York Times": „Mein Vater wollte den Menschen, deren Kultur er aufgenommen hatte, immer etwas zurückgeben. Das Projekt Global Jukebox soll ihnen vermitteln: Was ihr macht, ist viel wert."

http://culturalequity.org/