Für Blinde wären Joan Mirós Wandteppiche eine Wonne – wenn man die dicken, zotteligen Gemälde aus Jute, Leinen und Baumwolle denn anfassen dürfte. Die unregelmäßige Oberflächengestaltung ist neben Farben und Formen wichtiger Teil der Werke: Der Kunsthandwerker Josep Royo hat Mirós Bilder auf Kartons übertragen und dann auf dem Webstuhl reproduziert. Sie sind in den Jahren 1989 bis 1991 in Katalonien entstanden, – also nach Mirós Tod – und sind bis Ende März in der Stiftung des Künstlers an Palmas Stadtrand zu sehen.

Die acht großformatigen Werke bilden dynamische Landschaften aus Kordeln und Knoten, Fäden und Fransen, die den Tastsinn ansprechen. Auch der praktische Sinn erwacht beim Anblick der rund zwei mal drei Meter großen Teppiche. Wie sollte man die wohl nutzen? Einmal darüber laufen käme einer Fußreflexzonenmassage gleich, Tische würden darauf umfallen, vom Staub ganz zu schweigen, den die Dinger sammeln. Staubsauger würden an ihnen scheitern.

María Luisa Lax, Restauratorin und Koordinatorin der Ausstellung „Noves lectures de la col·lecció: I tapissos i obra gràfica" (Neue Lesarten der Sammlung: I Wandteppiche und grafisches Werk), räumt auf: Die Teppiche liegen seit mehr als 20 Jahren eingerollt und eingehüllt im dunklen Lager der Erbengemeinschaft Successió Miró S.L. in Palma, motten- und staubfrei.

Nun fällt Tageslicht auf sie, durch die Alabasterfenster und Lichtschächte des von Rafael Moneo entworfenen Museums. Es füllt die Ausstellungsräume mit gleichmäßiger Helligkeit, die auf sanfte 50 Lux heruntergedimmt wurde. So viel Licht vertragen textile Kunstwerke gerade noch, wenn sie nicht ausbleichen oder fadenscheinig werden sollen.

Warum überhaupt Wandteppiche, fragt man sich beim Gang durch den Espai Cúbic, und während man im Eingangsbereich, direkt gegenüber der Treppe, das größte Exponat mit dem Titel „Le Lézard aux plumes d´or" (Die Echse mit den goldenen Federn) betrachtet, tauchen mehr Fragen auf und das Thema textile Kunst steht im Raum.

Sie passt ja zu Miró und seinem anarchistischen Charakter: Er setzte alles in Kunst um, was in seine Hände gelangte. Und Textilkunst passt auch zum Regionalstolz des Katalanen, der ab 1954 bis zu seinem Tod 1983 auf Mallorca lebte, der Heimat seiner Frau Pilar Juncosa. Die Textilindustrie war in Katalonien jahrhundertelang sehr stark, wie Museen heute noch belegen.

In Sant Cugat bei Barcelona gibt es ein solches Museum, und dort liegt vielleicht der Anfang des Fadens, der zu Mirós taktiler Textilkunst führt. 1970 lernte Miró den Kunsthandwerker Josep Royo kennen. Der hatte sich in den 50er und 60er als Bildwirker, als Weber künstlerisch ambitionierter Teppiche, einen Namen gemacht. Mit Josep Grau-Garriga gründete er dann in Sant Cugat die katalanische Schule für Tapisserie, die Escola Catalana del Tapís.

Die beiden hatten viel zu tun, denn der Wind, der in den 60er und 70er Jahren in der Kunstszene wehte, trieb neben Joan Miró unter anderen auch den jüngst verstorbenen Antoni Tàpies zur Mischtechnik im besten Wortsinn: Trends wie Informelle Kunst, Tachismus oder abstrakter Expressionismus förderten Materialmix, Collage und Assemblage. In Katalonien wurde diese Spielerei mit Objekten und Materialien auch am Webstuhl umgesetzt: Es entstanden die sogenannten sobreteixims, die „Überwebten": textile Halbreliefs mit eingewebten Objekten, oft zerrissen und ziemlich wild.

Mirós Arbeiten in Palma sind alle heil und bestehen nur aus Baumwolle, Leinen und Jute. Im Besitz der Succesió Miró S.L. befinden sich aber auch andere Sachen des Meisters: durchlöcherte, mehrschichtige Teppiche, deren Farben teils eingewebt, teils aufgemalt sind, an denen Netze und Seile hängen, oder Regenschirme und Handschuhe.

Andere sind aus bemaltem und bedrucktem Sackleinen, an der Grenze zwischen Teppich und Bild. Sie provozieren eine sprachliche Hinterfragung: Muss eine Leinwand immer glatt verwoben sein? Hier ist Acryl jedenfalls nicht auf Leinen, sondern auf grober Jute getrocknet.

Dass Mirós Tapisserien in Palma noch recht aufgeräumt wirken, hat mit dem Zeitpunkt ihrer Entstehung zu tun: Josep Royo hat sie Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre gewebt, als der Maestro nicht mehr lebte. Zur Vorlage diente ihm das in den 1930er Jahren angelegte und erst 1971 gedruckte Büchlein „Le Lézard aux plumes d´or", in dem Miró handschriftlich Gedichte notiert und mit Zeichnungen begleitet hat. Diese waren dem Surrealismus verpflichtet, zeigen traumhaft-assoziative Figuren und Formen.

Das Heft, die späteren Drucke und die Teppiche mit einigen Motiven daraus sind Hauptbestandteil der Ausstellung in der Stiftung. Eine Fotoserie von Francesc Català-Roca zur Arbeit von Josep Royo am Webstuhl ist beigestellt.

Schließlich sind, ohne inhaltlichen Bezug zum Rest, 21 Drucke in Hommage an den Architekten Antoni Gaudí gezeigt, die Miró 1979 publiziert hat. Anstatt dieses Exkurses hätte man sich eine Referenz an den Giganten unter Mirós Textilwerken gewünscht, den 1974 hergestellten, sechs mal zehn Meter großen Wandteppich des World Trade Centers.

Er war das wertvollste Kunstwerk, das beim Angriff auf die Twin Towers 2001 in New York zerstört wurde. Und die Auftragsarbeit war eines von Mirós ersten textilen Werken. Anfangs hatte er sich geweigert, etwas herzustellen, das er nicht „mit seinen eigenen Händen machen konnte." Doch die Kunstfertigkeit von Josep Royo und dessen katalanische Tapisserie-Schule ließen Joan Miró glücklicherweise einlenken.

Im E-Paper sowie in der Printausgabe vom 15. März (Nummer 619) lesen Sie außerdem:

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