Von Schwierigkeiten möchte ­Josep Vicent, der neue künstlerische Leiter und Chef-Dirigent der Balearen-Sinfoniker nichts mehr wissen. Zu viele hat er in den vergangenen Monaten gehabt, zu viel Kraft hat ihn das Gezerre um die Finanzierung und die Zukunft des Orchesters gekostet. Es habe nicht mehr viel gefehlt, sagt Vicent im Nachhinein, und die Balearen-Sinfoniker wären von der Landkarte verschwunden. Doch jetzt will er nach vorne blicken. Der 43-Jährige, der auch das World Orchestra leitet, hat viele Pläne mit den Sinfonikern, und seit Samstag (2.11.) fühlt er sich auch wieder so kraftvoll wie an jenem Tag im Juli, an dem er seinen Job antrat. Die Sinfoniker haben mit einem grandiosen Konzert im Auditorium Palma ihre Saison begonnen. Es wurde zu einer Wiederauferstehung der Musik, zu einem Manifest. Als wollten die Musiker mit ihrer energischen Spielweise sagen: „Hier sind wir wieder, und hier bleiben wir." Minutenlange Ovationen des ­Publikums waren die Belohnung.

Die 25. Saison hat tatsächlich begonnen. Mit welchem Gefühl gehen Sie aus dem ersten Konzert?

Ich spüre, dass meine Akkus nach all den Kämpfen wieder aufgeladen sind. Der Samstagabend war ein Wendepunkt für uns. Ich weiß, dass ich in dem Ensemble Musiker allererster Güteklasse habe. Und für die kurze Zeit, die wir zusammenarbeiten, sind wir schon erstaunlich gut zusammengewachsen. Ich sehe aber auch, dass es noch ein sehr weiter Weg ist, bis ich aus dem Orchester alles herausgeholt haben werde, was möglich ist. Hier ist ein schier unendliches Potenzial vorhanden. Mit etwas Arbeit kann ich die Sinfoniker zu einem der großen Orchester in Europa machen.

Wie sind Sie mit dem Zuschauer­zuspruch zufrieden? Der Saal war nicht ganz ausverkauft.

Es hat aber nicht viel gefehlt, und das war für mich ein enormer Erfolg. Denn wir sind mit einem Vorlauf von drei Tagen in das Konzert gegangen. Am Mittwoch haben wir das Programm ­vorgestellt und am Samstag das Auditorium fast gefüllt. Ich bin darüber sehr glücklich. Ich wusste ja nicht, wie es werden würde. Ich kümmere mich zwar um jede Kleinigkeit im Vorfeld. Aber wenn dann das erste Konzert kommt, bin ich sehr nervös. Doch die Arbeit hat sich gelohnt, das Konzert war eine Art Liebesakt. So muss es sein! Man muss ja auch sehen: Wir haben an nur drei Tagen 300 Abonnements verkauft. Es geht jetzt gerade erst los.

Das Publikum am Samstag war vor allem berührt von der Interpretation von Tschaikowskys Klavierkonzert Nummer 1. Wie stellt man so eine Verbindung zu den Menschen her?

Es geht darum, eine gemeinsame Sprache zu finden. Ich glaube fest an das Phänomen des Klangs. Der Klang berührt uns, er dringt richtiggehend in uns ein. Und diejenigen,die beim Konzert waren, verlassen den Saal als Freunde. Wir gehen in diesen zwei Stunden des Konzerts alle den gleichen Weg. Ich will, dass dieses Orchester die Fähigkeit entwickelt, die Gesellschaft zu verändern.

Große Worte, doch wie soll das konkret aussehen?

Es ist doch so: Die Menschen, die gemeinsam in einem Konzert sitzen, werden später schon einmal nicht aufeinander einschlagen. Die Musik ist das Werkzeug, um unser friedliches Zusammenleben zu garantieren. Und die Musik ist unsere Verbindung mit allem Transzendenten. Deshalb finde ich, dass es von Seiten der Politik eine Pflicht ist, Musik zu fördern.

Da scheint es ja manchmal ein wenig zu hapern. Mal ehrlich, wie oft waren Sie in den vergangenen Monaten kurz davor, hier alle Zelte abzubrechen?

Ein paarmal wollte ich hinschmeißen. Doch dann habe ich mir vorgenommen, nicht aufzugeben, bevor nicht eine finanzielle Sicherheit für die Orchester-Mitglieder gewährleistet wird. Und als das dann erreicht war, haben wir das Licht am Ende des Tunnels gesehen und konnten loslegen.

Gab es Musiker, die das Orchester zwischendurch verlassen wollten?

Ja, die gab es. Man muss sich ja mal vor Augen führen, dass hier Leute spielen, die teilweise in den besten Orchestern der Welt waren.

Welche Spuren haben die langen Monate der zähen Verhandlungen an Ihnen hinterlassen?

Es war eine der schmerzhaftesten Erfahrungen in meinem Leben. Jeden Tag war ich mit Menschen zusammen, denen es wirklich schlecht ging. Musiker, die fünf Kinder daheim haben und ein Haus abbezahlen müssen, aber vier Monate keinen Cent Gehalt sehen. Auf der anderen Seite war es aber auch sehr positiv zu sehen, wie sich die Ensemblemitglieder immer wieder gegenseitig Mut gemacht und Durchhaltevermögen bewiesen haben. Das ist für mich überhaupt das Größte am Menschen: seine Fähigkeit, mit Extremsituationen klarzukommen. Diejenigen, denen es am schlechtesten geht, haben die meiste Kraft.

Welche Pläne haben Sie jetzt mit dem Orchester?

Das Wichtigste ist für mich, dass die Balearen-Sinfoniker einen eigenen Klang entwickeln, der sie unverwechselbar macht. Wir sind ja schließlich kein Museum. Ich stelle mir einen reinen und vollen Klang vor. Konkret will ich die Musik noch näher an das Publikum bringen. Ich würde gerne Leinwände im Auditorium anbringen, damit auch die Zuschauer in den hinteren Reihen die Gesichter der Musiker in Großaufnahme sehen können. Denn nur dann sind sie wirklich voll und ganz dabei. Außerdem werden wir die Aktivitäten auf der Insel ausdehnen. Zum Beispiel spielen wir am 20. November in Alcúdia. Ich möchte, dass auch Orte außerhalb von Palma in den Genuss der Sinfoniker kommen. Und was mir besonders am Herzen liegt, ist der Export der Musik von der Insel.

Was schwebt Ihnen da vor?

Ich habe ja im Januar schon zahlreiche Kontakte im Ausland geknüpft, um das Orchester auf Tournee zu schicken. Denn die Balearen-Sinfoniker können ein ganz wichtiger Werbeträger für Mallorca werden. Diese Kontakte sind durch die Unsicherheit, wie es weitergeht, wieder etwas eingeschlafen. Aber jetzt können wir anfangen, in diese Richtung etwas aufzubauen.

Im E-Paper sowie in der Printausgabe vom 7. November (Nummer 705) lesen Sie außerdem:

- Evolution Film Festival I: Der Mann, der sich was traut (e)

- Evolution Festival II: die Filme

- Schweizerin bereichert Jazz-Szene