Ein großes Meer, wie die Juden das Mittelmeer nennen, hat ein großes Buch verdient. Der Autor ist Brite und damit eigentlich dem Atlantik verbunden. Doch David Abulafia, sein Name verrät es, hat mediterrane Vorfahren. Der 64-jährige Geschichtsprofessor in Cambridge stammt von Sepharden ab, von spanischen Juden. „A la memoria de mis antecesores", meinen Vorfahren zum Gedenken, steht auf Spanisch als Widmung auf der ersten Seite des über 800 Seiten dicken Wälzers.

Im englischsprachigen Original heißt er „The Great Sea. A Human History of the Mediterranean". Zwei Jahre nach der Erstveröffentlichung ist es nun auf Deutsch erschienen, mit dem Titel „Das Mittelmeer. Eine Biographie". Es ist ein großartiges Buch.

Der Verfasser ist ein einflussreicher, mehrfach ausgezeichneter Wissenschaftler. Eines seiner Fachgebiete ist das Mittelmeer. Mit der Sicherheit des Experten präsentiert er ein Werk, das vor Detailwissen strotzt und dennoch nicht ermüdet. Es ist dem interessierten Laien gewidmet. Abulafia hat es mit Anekdoten gespickt, die sich oft vor Jahrhunderten ereignet haben. Er hat es mit einfacher Sprache ausgestattet und durch eine klare Struktur sowie ein hervorragendes Glossar geordnet. Zudem hat er für Historiker typische Formulierungen wie wahrscheinlich, vielleicht oder vermutlich weggelassen und so den Lesefluss beschleunigt.

Das Buch ist eine dicke Sammlung spannender Geschichten, gedeutet von einem Menschen, der das Mittelmeer und dessen Menschen kennt und liebt. Anstatt sich chronologisch durch fünf Kapitel und mehr als 5.000 Jahre Kulturgeschichte zu arbeiten, sollte man es wie ein Hausbuch nutzen, mal über die Purpurhändler 1.000 vor Christus lesen, mal die Kenntnisse über das Mare Nostrum der Römer auffrischen oder den Niedergang der Ottomanen im 20. Jahrhundert nacherleben.

Der Untertitel und die persönliche Beziehung des Autors zum mediterranen Kulturraum versprechen einen ungewöhnlichen Zugang. Abulafia sucht nach dem menschlichen Antlitz des Mittelmeers, danach, wie die Menschen ihren Lebensraum gedeutet, genutzt und gestaltet haben. Er erklärt uns, warum Kriege geführt, Pakte geschlossen und Städte gegründet wurden - oft wegen irrationaler Kleinigkeiten und menschlicher Schwächen. Er fokussiert Hafenstädte und Inseln, besonders solche „in denen sich Kulturen einander begegneten und sich miteinander vermischten."

Inseln stellt er besonders ausführlich vor, „soweit deren Bewohner den Blick nach außen richteten - weshalb etwa die Korsen hier weniger behandelt werden als die Malteser." Hier werden Toleranz und Offenheit spürbar. Abulafias Familiengeschichte legt dies nahe: Seine Vorfahren wurden 1492 von den Katholischen Königen aus Kastilien vertrieben, überquerten das Mittelmeer „über die Jahrhunderte mehrfach von einem Ende bis zum anderen".

Für den Autor ist das Mittelmeer ein Raum großer kultureller Vielfalt. Er hält nichts vom Gedanken mediterraner Einheit, wie ihn vor ein paar Jahren die Europäische Union propagierte. In seiner „vertikalen", historischen Biographie sehen wir das Meer zunächst als ein abgeschlossenes, ausgetrocknetes Becken (vor 12 bis 15 Millionen Jahren), das sich nach dem Durchbruch der Meerenge von Gibraltar binnen „einiger Jahre" mit dem Wasser des Atlantiks füllte. Wir lernen die Winde und Strömungen kennen und deren Bedeutung für Handelsrouten und Eroberungsfahrten. Wir erfahren, dass der Niedergang der Mittelmeervölker auch von einem Klimawandel im 16. und 17. Jahrhundert beeinflusst wurde: Plötzlich mussten sie Getreide aus nördlicher gelegenen Ländern importieren. Sie öffneten damit das Mittelmeer für Holländer, Engländer und Russen. Und wir erfahren, warum sich heute so viele Nordländer an seinen Stränden tummeln.

Mallorca hat Abulafia mehrmals erwähnt. Er beschreibt die Eroberung durch König Jaume I. im 13. Jahrhundert; erwähnt Ramon Llull (nicht ohne Ironie), von dem nicht bekannt sei, „ob er jemals auch nur einen einzigen Menschen bekehrte"; stellt die mittelalterlichen Seekartenzeichner Jafuda und Abraham Cresques vor; erwähnt den frechen Seeräuber Pere de Garau; schildert die Landung italienischer Faschisten im Zweiten Weltkrieg, die 3.000 Mallorquiner exekutierten, und untersucht das Phänomen Massentourismus auf Mallorca.

All das sind Momente in der Geschichte, in denen die Insel im Mittelmeerraum Bedeutung erlangte oder zumindest wahrgenommen wurde. Mallorca gehört eindeutig zu Abulafias Kategorie jener Inseln, deren Bewohner nach außen blickten. Das Zusammen­leben dreier Kulturen und die strategische Position der Insel während der Auseinandersetzungen zwischen Christen und Moslems thematisiert Abulafia ausführlicher.

Im 20. Jahrhundert wurde Mallorca zum Inbegriff des Massentourismus´. In den 50er Jahren richtete der britische Reise­veranstalter Thomson Holidays die erste regelmäßige Flugverbindung nach Mallorca ein, „das nun zum ersten Ziel eines intensiven Flugtourismus wurde", schreibt Abulafia.

Heute verbringen entlang der Küsten des Mittelmeers an die 230 Millionen Menschen im Jahr ihren Urlaub. Die Eisenbahn erschloss vor dem Zweiten Weltkrieg einer kleinen Elite die Küsten von Frankreich oder Italien. Später erkannten die Mittelmeerländer, dass an den Küstenregionen viel ausländisches Geld geholt werden konnte. Sie förderten den neuen Industriezweig. Damit änderte sich im 20. Jahrhundert die Bedeutung des jahrtausendelang umkämpften Kulturraums. War er den alten Hebräern noch eine Lobpreisung wert - „Gepriesen seist Du, Herr unser Gott, König des Universums, der Du das Große Meer geschaffen hast" - freut sich der Durchschnittsbürger heute, wenn er für wenig Geld ein Plätzchen an der Sonne ergattern kann.

David Abulafia: „Das Mittelmeer. Eine Biographie" S. Fischer Verlag, 960 Seiten, 34 Euro.

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