Klischees knacken und dabei Spaß haben. Das kann man mit dem spanischsprachigen Buch „Hispanomanía" des britisch-spanischen Journalisten, Historikers und Buchautors Tom Burns Marañón. Dem etwas unscharfen Buchtitel folgend erwarten den Leser Erklärungen und Beispiele der „Spanienmanie", jener Besessenheit oder Begeisterung, die das Land bei vielen hervorruft, die es bereisen.

Der Titel erschien erstmals 2000 und ist nun in erweiterter Neuauflage wieder verlegt worden. Der aktuelle Anlass scheint gegeben. Nachdem die Krise Spaniens Image schwer geschädigt hat, versuchen Regierung und Wirtschaft, eine starke marca España zu etablieren. Leider bedienten sie sich dabei, so Tom Burns Marañón und auch andere Beobachter, falscher, klischeegetrübter und überholter Werte.

Wie soll ein Land, das seit Beginn des 19. Jahrhunderts als untätig und arm, exotisch und dekadent abgestempelt wird, das als Paradies für Gestresste, für Freunde des langen Gesprächs, der Spaziergänge, der Siesta, für Liebhaber von Tanz und Musik gehandelt wird, je zum seriösen Handelspartner, zur starken Wirtschaftsnation werden? Niemand nimmt Spanien ernst, so scheint es, und Tom Burns Marañón bedauert das einerseits. Andererseits fordert er das Land zur Selbstanalyse auf.

Der 66-jährige Sohn eines britischen Verlegers und Enkel des spanischen Arztes und Philosophen Gregorio Marañón (seine Mutter war María Isabel Marañón) wuchs in Großbritannien und Spanien auf. Er fühlt sich beiden Ländern gleichermaßen verbunden. Als langjähriger Korrespondent englischsprachiger Medien in Madrid konnte er sich ausführlich mit seinem Heimatland mütterlicherseits auseinandersetzen. Und er hat festgestellt: Das Verhältnis zwischen Spanien und seinen Nachbarn ist von Missverständnissen geprägt, die vor rund 200 Jahren entstanden sind.

Wenn sich der britische Hispanist Gerald Brenan zum Beispiel im andalusischen Alpujarra-Gebirge dem süßen, südländischen Nichtstun hingibt und darüber ausführlich schreibt („Südlich von Granada", 1990 auf Deutsch), während die schuftenden Dörfler am Existenz­minimum herumkrebsen. Oder wenn der Wiener Franz Borkenau 1937 Armut und Rückständigkeit idealisiert: „In Spanien ist das Leben noch ineffizient, also noch nicht mechanisiert. Den Spaniern ist Schönheit immer noch wichtiger als praktischer Nutzen." („Kampfplatz Spanien"). Oder wenn Adrenalin-Junkie Ernest Hemingway von Stierkampf und Bürgerkrieg gleichermaßen fasziniert scheint und Spanien als ein Land der Extreme darstellt („Tod am Nachmittag", 1932, „Alter Mann an der Brücke", 1938, „Wem die Stunde schlägt", 1940). Keiner dieser Autoren wünschte sich ein so „normales" Land wie ihr Heimatland. Spanien war nur deshalb interessant, weil es so schön „anders" war.

Spanien hat das schnell begriffen und erfüllte geflissentlich die ­Erwartungen der Nachbarn, kritisiert Burns Marañón. Mit fatalen Folgen. Spaniens Selbstwahrnehmung sei von jenen Eindrücken erster Reiseschriftsteller geprägt, die das Land im 18. und 19. Jahrhundert porträtierten und in Europa bekannt machten. Spanien sehe sich sozusagen selbst durch die Brille der Romantiker, die die Modernisierung ihrer Länder verabscheuten und auf der Suche nach dem Echten und Unverdorbenen, nach dem Schönen und Einfachen waren. In Spanien schienen sie es gefunden zu haben.

Als Beispiel für diese fast schon unwürdige Selbstverleugnung fügt der Autor den Slogan „Spain is different" an, mit dem Francos Touris­musminister Manuel Fraga seinerzeit die Tourismusmaschinerie ankurbelte und der sich noch immer hält, wenn auch nicht offiziell. Mit dem Begriff different meinten Autoren wie Théophile Gautier, Charles Davillier, George Sand, Maurice Legendre, Richard Ford, George Borrow, Alexander Jardine, George Orwell, Ernest Hemingway oder Gustave Doré aber etwas anderes als Fraga und Franco. Die Andersartigkeit setzten angelsächsische und französische Autoren mit Begriffen wie Abgeschiedenheit, Entspanntheit, Rückständigkeit oder Exotik gleich, während die Diktatur den Begriff als Existenzberechtigung nutzte. Ein „anderes" Land bräuchte eben eine andere Regierung, anders als die demokratischen Nachbarn.

Das rund 400 Seiten dicke Buch ist unterhaltsam und differenziert. George Sand war weit weniger begeistert von Spanien, genauer gesagt Mallorca, als andere. Besonders herausragend in seiner Spanien­besessenheit war Sands Landsmann und Zeitgenosse Théophile Gautier, der 1840 nach sechs Monaten Spanienreise mit Tränen in den Augen die Grenze überschritt („Voyage a Espagne"). George Sand kehrte dagegen mit dem Gefühl nach Frankreich zurück, „als ob ich nach langem Aufenthalt bei den Wilden Polynesiens endlich wieder in der Zivilisation sei" („Un hiver à Majorque", 1842).

Den unterhaltsam zu lesenden Reiseberichten über halbnackte Zigarrendreherinnen in Sevilla, tanzende gitanos oder wagemutige Wege­lagerer setzt Burns Marañón am Ende die Sicht des britischen Historikers Raymond Carr entgegen, der 1999 den Prinz von Asturien-Preis bekam und mit seinem 1966 veröffentlichten Monumentalwerk „Spain 1808-1939" neue Maßstäbe setzte. Carr habe das Land wie jedes andere untersucht, heißt es, „ein Land mit Problemen und Herausforderungen, wie sie viele andere Länder auch haben. Er hat debattiert und geforscht und ist dabei nicht in die Falle des Südens getappt."

Zuletzt habe Spanien wohl 1992 bei der Expo in Sevilla einen ernsthaften Versuch unternommen, die Wahrnehmung zu schärfen. „Der Blick des Anderen: Das Spanienbild in der Welt" hieß ein Symposium. Das demokratische Spanien sei in keiner Weise mehr anders als seine Nachbarn, lautete der Tenor vieler Beiträge, es gebe also keinen Anlass mehr zum Missverständnis.

Letztlich sitzen auch viele von uns Deutschen, die auf Mallorca ganz oder teilweise leben, alten Klischees auf. Wer sich mit der eigenen Existenz und dem Befinden unserer Gastgeber tiefer beschäftigen möchte, dem seien die Lektüre einiger der erwähnten Reisebücher des 18. und 19. Jahrhunderts empfohlen. Dabei lernt man nicht nur Spanien kennen, wie es wohl einmal war. Man erkennt auch, dass Überheblichkeit, Unwissen und Vorurteile eine ungetrübte Wahrnehmung unmöglich machen.

Tom Burns Marañon: „Hispanomanía". Galaxia Gutenberg, Barcelona 2014. 23 Euro.

Im E-Paper sowie in der Printausgabe vom 21. August (Nummer 746) lesen Sie außerdem:

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