Ist es eigentlich noch zeitgemäß, Deutschland mit Sauerkraut in Verbindung zu bringen? Mal abgesehen davon, dass chucrut eines der bekanntesten deutschen Gastronomieprodukte ist: Isst es eigentlich noch irgendwer? Ana Sainz Quesada zumindest sagt: „Wenn ich an Deutschland denke, denke ich an Sauerkraut."

Nicht nur deshalb hat sie ihren ersten Comic, der zu großen Teilen in Deutschland spielt, „Chucrut" genannt. „Ich mag kurze, klangvolle Titel", sagt die 25-Jährige. In „Chucrut" erzählt sie unter dem Pseudonym Anapurna auf Spanisch die zum Teil autobiografische Geschichte von Sara, einer jungen Frau, die ihren Vater verliert, als sie nach Deutschland aufbricht, um in Karlsruhe an einer künstlerischen Weiterbidung in einer Druckwerkstatt teilzunehmen.

Auch die in Palma geborene und seit ein paar Jahren in Madrid lebende Ana Sainz verlor vor drei Jahren ihren Vater. Kurz darauf begann sie einen Erasmus-Aufenthalt in der badischen Stadt. „Für mich ist es einfacher, eine Geschichte ausgehend von persönlichen Erfahrungen zu erzählen. Zudem geht es um die Verarbeitung des Todes eines Angehörigen, einem Thema, über das nicht gerne gesprochen wird. Ich habe mich dafür entschieden, es möglichst lebensnah zu erzählen."

Saras Aufenthalt in Deutschland beginnt zwiespältig. Zwar findet sie in Max, einem Deutschen mit hervorragenden Spanischkenntnissen, und einer anderen Spanierin aus der Druckwerkstatt bald Freunde. Doch die Trauer um den verstorbenen Vater holt sie immer wieder ein, in Kindheits­erinnerungen und Träumen.

Und dann ist da noch die zunächst sympathische, aber mysteriöse ältere Dame namens Greta, bei der Sara wohnen kann. Nachts geht sie immer wieder in den Keller und macht haarsträubende Geräusche, die Sara den Schlaf rauben. Eines Tages kommt die junge Künstlerin nach Hause und findet eine blutgetränkte Schürze in der Küche. Als dann wenige Tage später in der Zeitung steht, dass zwei Leichen aus der medizinischen Fakultät verschwunden sind, kommt ihr eine böse Ahnung. Realität und Traum vermischen sich, Sara weiß nicht mehr, was wahr ist.

Ursprünglich hatte Sainz die Graphic Novel als Abschlussprojekt für ihren Master in Madrid geplant. Die 15 Seiten, die sie damals zeichnete, reichte sie beim Kulturfürderpreis FNAC-Salamandra ein. Mit 10.000 Euro Preisgeld plus Veröffentlichung ist der vergleichbar mit dem Comic-Preis der Stadt Palma. „Ich habe mir keine Hoffnungen gemacht, da irgendetwas zu holen", sagt Sainz. Doch es kam anderes. Anfang 2015 erhielt sie den Anruf, dass sie gewonnen hatte. Die Jury lobte die „solide Erzählweise, mit der die Autorin die persönliche Entwicklung präsentiert" und eine „schlichte Linienführung, die mit der Reife des Projektes kontrastiert".

Tatsächlich sind die Zeichnungen wenig opulent und konzentrieren sich auf das Wesentliche. Neben dem schwarzen Strich auf weißem Hintergrund setzt Sainz nur hier und da ein paar rötliche Farbtupfer. Frauen zeichnet sie mit spiralförmigen Kreisen auf den Wangen. Dennoch gelingt es ihr so, die Emotionen der Protagonisten einzufangen und Atmosphären zu kreieren. Insbesondere die Momente, in denen Saras Wahrnehmung sich zwischen Fantasie und Realität bewegt, sind eindrucksvoll. Etwa, wenn sich Gretas Gesicht in Saras Blick in eine grässliche, teuflische Fratze verwandelt. Oder beim ersten Mal, wo Sara sich hinunter in den Keller traut, aber an der Tür stehen bleibt, hinter der sie schreckliche Fabelwesen vermutet. Ebenso atmosphärisch gelungen sind aber auch die ruhigen Momente: Sara, wie sie die neue Stadt erkundet, wie sie mit Freunden Bier trinkt, wie sie an ihren Drucken arbeitet.

Auch der Nationalsozialismus kommt in dem Band vor, inwiefern soll hier nicht verraten werden. Keine Geschichte über Deutschland ohne Nazis: Das klingt nach einem zweiten Klischee. Sainz sagt, dass sie mit dem Thema während ihres Erasmus-Aufenthaltes nur am Rande in Berührung gekommen sei. „Natürlich hat man mir die Geschichte der Stadt erzählt, aber es ist nicht so, dass ich mich intensiv damit auseinandergesetzt hätte." Die Geschichte des Nationalsozialismus diene in „Chucrut" vielmehr als versöhnendes Element zwischen den Charakteren, als weiteres Beispiel für den Umgang mit Verlust.

Tatsächlich, so viel kann dann doch verraten werden, endet die Geschichte versöhnlich. Man hat den Eindruck, dass sich Sara aus ihrer Trauer befreien konnte. War es bei ihrer Ankunft in Karlsruhe noch kalt, trägt sie jetzt ein Sommerkleid. Sie legt sich auf eine Parkbank und schaut in den Himmel. Aus ihrer Tasche holt sie ein Flugticket: von Karlsruhe nach Palma.

Vielleicht ist das die wichtigste Lektion des Buches: Es gibt eine Überwindung der Trauer, auch wenn sie lange dauert, in der Fremde stattfindet und mit viel Einsamkeit verbunden ist. Und man dabei beinahe verrückt wird.

„Chucrut" von Anapurna ist bei Salamandra Graphic erschienen und kostet 17 Euro.