Rund hundert Dudelsäcke gibt es zurzeit in Litauen. Diese Information mag manchem Leser eines Tages das entscheidende Tortenstück bei „Trivial Pursuit" bringen. Für Gvidas Kovera ist diese Zahl hingegen der Beweis, dass das Instrument in seinem Heimatland gerade einen Boom erlebt. Als er sich 1999 seinen ersten Dudelsack kaufte, gab es lediglich einen weiteren Menschen, der darauf spielte. 2004 veröffentlichte Kovera, der hauptberuflich als Kameramann beim Fernsehen arbeitet, das Album „Silences of Labanoras". Seither hat er bei Konzerten auch schon mal vor 20.000 Zuschauern gespielt. „Und trotzdem gibt es immer jemanden, der nach dem Konzert kommt und mich fragt, ob ich Schotte bin", sagt er unter dem gequältem Gelächter des Publikums.

Denn dass Schottland der Dudelsackkultur anderer Länder die Schau stiehlt, brauchte man bei der vierten internationalen Dudelsackkonferenz, die am vergangenen Wochenende in Palmas Arxiu del Regne stattfand, niemandem zu erklären. Vielmehr sind die ­Referenten hier angetreten, um diese Vielfalt zu demonstrieren. Die mazedonische Gajda wird hier ebenso präsentiert wie die türkische Tulum oder die Tradition der Sackpfeife in den rumänischen Karpaten. Eine halbe Stunde inklusive Fragen aus dem Publikum hat jeder Zeit, seine Forschung zu präsentieren.Bemerkenswertes Revival

„Ich bin immer wieder neu überrascht, welche Themen uns für die Konferenzen vorgeschlagen werden", sagt Cassandre Balosso-Bardin von der International Bagpipe Organisation. „So hatte ich beispielsweise gehört, dass es in der Türkei Dudelsäcke gibt. Aber ich hatte nie einen gesehen oder den Klang vernommen." Die Französin hat die Konferenz vor sechs Jahren als akademischen Arm des Internationalen Dudelsacktages ins Leben gerufen, um den Austausch zwischen Musikern zu fördern und das Instrument bekannter zu machen. Als 13-Jährige hatte sie sich bei einem Spanisch-Sprachkurs in Galicien in den Klang der gaita verliebt. Ihre Dissertation schrieb sie über die mallorquinischen xeremies. „Das war auch der Grund, warum wir die Konferenz nach zwei Mal London und einmal Glasgow hierher gebracht haben." Man wolle dem mallorquinischen Dudelsack zu mehr Aufmerksamkeit verhelfen

In den vergangenen 40 Jahren habe es ein bemerkenswertes Revival des Dudelsacks gegeben, sagt Roger Landes. Der US-Amerikaner aus Texas erforscht den englischen Dudelsack und ist erstmals Mit-Organisator der Konferenz. „Es gibt allein in Europa 130 verschiedene Dudelsack-Typen. Und rund die Hälfte davon erlebt ein Revival." Das Besondere sei, dass diese Wiederentdeckung auf „subnationaler Ebene" stattfände, sagt er. „Wir kennen etwa das galicische, das asturische, das mallorquinische oder auch das bretonische Revival. Es gibt aber kein spanisches oder französisches Revival." Gleichzeitig seien diese Bewegungen transnational. Die EU habe viel damit zu tun gehabt, glaubt Landes. Sie habe den Austausch zwischen den Musikern befördert. So konnte ein Dudelsack-Aufschwung in einem Land wie Frankreich einen anderen in Osteuropa entfachen. „Sie können sich vorstellen, dass die Nachricht vom Brexit Schockwellen unter meinen englischen Dudelsack-Freunden entfacht hat", sagt Landes."Tradition ist weniger traditionalistisch"

Teilweise seien diese Revivals, die vom US-amerikanischen Folk inspiriert wurden, ideologisch aufgeladen und originalgetreuer als das Original, sagt Ulrich Morgenstern, Volksmusikforscher an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien. „Die Tradition ist weniger traditionalistisch." In Ländern, in denen kein Revival nötig gewesen sei, weil wenige Akteure die Tradition erhalten hätten, erlebe man eine größere stilistische Offenheit. „Ich habe in Kroatien einen älteren Dudelsackspieler auch mal einen Tango spielen gehört", sagt Morgenstern.

Generell bestehe die Dudelsackszene aus Laien und Enthusiasten, die sich jahrzehntelang mit dem Instrument beschäftigen und so viel Wissen wiedererlangen und erhalten, sagt Morgenstern. Auch dafür gab es Beispiele auf der Konferenz. Der Franzose Patrick Burbaud hat in jahrelanger Arbeit mit einem kleinen Team in privater Initiative die Boha untersucht, eine Dudelsack-Variante aus dem 19. Jahrhundert im Gasgogne, die in den 70er-Jahren wiederentdeckt wurde. Insgesamt 19 ursprüngliche Instrumente hat Burbaud in einem Buch zusammengetragen, sie fotografiert, vermessen und beschrieben. Teilweise musste er zwei Jahre auf die Einwilligung der Eigentümer warten, um sich ihren Dudelsack anschauen zu dürfen. Es sei seines Wissens das erste Mal, dass jemand eine Studie über alle existierenden Exemplare einer Dudelsackfamilie veröffentlicht habe, sagte der Franzose beim Vortrag.Begleitet von einer Flöte

Eher praxisorientiert geht Daniele Bicego seine regionalistische Dudelsackforschung an. Der junge ­Italiener ist Instrumentenbauer und hat sich auf die Müsa spezialisiert. Diese Dudelsack-Variante ist nur in einer kleinen, norditalienischen Dörfergruppe bekannt. Nur zwei Originalexemplare des Instruments sind komplett erhalten. In seinem Vortrag erklärte Bicego die Besonderheiten. So wird dieser Dudelsack nicht alleine gespielt, sondern von einer Flöte namens Piffero begleitet.

Ob der Dudelsack eine Renaissance feiert oder vor dem Aussterben ist, darüber entscheiden viele Faktoren. In ihrem Vortrag über die Sackpfeifen der Karpaten erklärten Morgenstern und sein Kollege Razvan Rosu, dass einige Dörfer eine große Tradition haben. Die kommunistische Diktatur in Rumänien habe folkloristische Elemente gefördert. Die Dudelsackspieler seien mit Orchestern aufgetreten. Dennoch ist Rosu pessimistisch. „Ein Großteil der jungen Rumänen emigriert in andere europäische Länder, um zu arbeiten. Wenn Sie wiederkommen, haben sie andere Vorstellungen von Musik. Sie interessieren sich dann nicht mehr für die Tradition."

Dieses Problem hat der Litauer Kovera vorerst nicht. Im Rahmen des Festivals „Kaunas Jazz" gibt es internationale Dudelsackspielertreffen, junge Leute beginnen das Instrument zu spielen. Im Jahr 2022 wird Kaunas zudem europäische Kulturhauptstadt. Kovera arbeitet jetzt schon daran, dass die Dudel­säcke dort möglichst prominent vertreten sein werden.