Von Karl Hofer MZ-Reporter und

Ex-Cheffotograf der Neuen Zürcher Zeitung

Calvià ist alles, was Sie sich erträumen." So stellt sich in einer Hochglanzbroschüre jene Gemeinde im Inselwesten vor, der in den letzten Jahrzehnten ein wirtschaftlicher Wunschtraum in geradezu märchenhafter Art und Weise in Erfüllung gegangen ist.

Früher zählte Calvià zu den ärmsten Siedlungen ganz Spaniens, in der die Bewohner noch zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Dürrezeiten oder in kalten Winterwochen oft Hunger litten. Wohl gehörten zum Gemeindegebiet schon damals ausgedehnte Küstenabschnitte mit Sandstränden. Doch sie trugen nichts zum Lebensunterhalt bei und galten deshalb als wertlos.

Das wirkte sich auf die früher praktizierten Erbteilungen aus. Usus war, dass der älteste Sohn den Hof und das Ackerland im Landesinnern zugesprochen erhielt, die nachgeborenen Kinder oder ungeliebte Verwandte sich dagegen mit den uninteressanten Küsten­abschnitten und den Sandbuchten zufrieden geben mussten. Mit dem Aufkommen des Charterflugverkehrs vor einem halben Jahrhundert dann der Donnerschlag: Die Touristenwellen aus Mittel- und Nordeuropa begannen die ­Insel zu überrollen und die Sandstrände zu erobern. Sozusagen über Nacht verwandelten sich die wertlosen Küstenabschnitte buchstäblich in Goldgruben. Calvià ist heute eine der reichsten Gemeinde ganz Spaniens. Diesen Reichtum verdankt sie in erster Linie dem Massentourismus, der sich in den aus dem Boden gestampften Feriensiedlungen an Calviàs Küste festkrallte. Zu diesen ­Ferienorten gehört das nicht unumstrittene Peguera, dem wir hier etwas auf den Zahn fühlen wollen.

Weder Hütte noch Mensch

Im Jahre 1912 besuchte der deutsche Professor Otto Bürger Mallorca. In seinem Reisebericht notierte er später über die Region Peguera: ýDurch Pinienwald leuchtet blendend weiß der Sand der Playa. Kein Haus, nicht einmal eine Hütte und auch nirgends ein Mensch. Man dankt dem Himmel, dass es noch Stätten wie diese gibt, wo die Natur niemand zu gehören scheint." Die Siedlung Peguera existierte damals also noch nicht. Geboren wurde sie erst im Tourismuszeitalter. Glücklicherweise blieben dem Ort trotz der anfänglich großen Bauwut eine zubetonierte Küstenlinie sowie allzu viele Hotelklötze und Hochhäuser erspart. Auch die Überbauungen an den Bergflanken und die drei aldeas an der Steilküste von Cala Fornells ordnen sich schonender als ­anderswo ins Ortsbild ein.

ýIn den ersten Jahrzehnten des aufblühenden Massentourismus", erzählt Miguel Àngel Carrasco, Hotelier und langjähriger Präsident der Einwohnervereinigung Asociación de vecinos, ýüberwogen in Peguera die Engländer. Später wechselten sie mehrheitlich nach Magaluf." Heute registriert man sowohl bei den Urlaubern als auch bei den Residenten kleinere Gruppen aus verschiedenen Nationen.

Ansonsten jedoch befindet sich Peguera fest in deutscher Hand. Nicht zur aller Freude: Die große Zahl an Deutschen polarisiert und wird von jenen harsch kritisiert, die im Ort mediterranes ­Lebensgefühl und mallorquinische Lebensweise immer mehr an die Wand gedrückt sehen. Der Restaurantführer Al Punto lässt auch kulinarisch keinen guten Faden an Peguera und spricht seit Jahren sehr vollmundig von ýÜbernachtungsfabriken mit Kantinenkost".

Die Einheimischen begegnen der deutschen Invasion mit ­Gelassenheit. Man ist geschäftlich mit den Gästen zwar stetig im Kontakt, hält sonst jedoch weitgehend Distanz. Beispielsweise bleiben die 164 Familien der Einwohnervereinigung unter sich, animieren auch langjährige Residenten nicht zum Mittun.

Augenfällig zeigt sich an der Calle de Pozo, wie man aneinander vorbeilebt. Ein junger Einheimischer eröffnete hier vor einigen Wochen einen Secondhand-Shop. Offensichtlich bat er zuvor weder einen deutschen Ladenbesitzer noch einen der vielen deutschen Touristen um kollegialen sprachlichen Beistand. Deshalb liest man jetzt auf der neuen Firmentafel in Goldschrift: ýVerkauf und Kauf Hinterlingung Artikel neue und gebraucht." Und ­darunter: ýZu vermieten, Werkauf und Erwerb von aus erter und zweiter hand."

Der Vorzeigestrand

Peguera tut einiges zur Verschönerung des Ortsbildes. Besonders stolz sind die Verantwortlichen auf die von Palmen gesäumte Promenade im Uferbereich, die nun auch den vor einigen Jahren durch Sandaufschüttungen geschaffenen neuen Palmira-Strand umschließt. Dieser Strandabschnitt mit seinen zahlreichen Serviceleistungen und guter Wasserqualität bekam vor kurzem vom Madrider ýInstituto para la Calidad Turística Espa­ñola" das

ýQ"-Gütezeichen zugesprochen - eine große Ehre, denn insgesamt haben bisher erst zwei Strände auf den Balearen­inseln diese Auszeichnung erhalten.

2.800 Leute leben heute ganzjährig in Peguera, in der Hochsaison im Juli und August schwillt die Bevölkerungszahl auf 20.000 oder 21.000 ­Personen an. Unter den Sommergästen sind viele Familien mit Kindern und junge Paare. Vom September an dominieren dann wieder sehr stark die Rentner. Den ýAltersheim-­Eindruck" im Winterhalbjahr mildern etwas die ledigen und verheirateten Berufstätigen.

In Peguera qualifizierte Arbeit zu finden, ist allerdings nicht einfach, wie der seit 1971 auf Mallorca tätige Malermeister ­Edgar Xavier Weiss gesteht: ýGrundvoraussetzung ist, dass man sich verständigen kann, also Spanisch spricht. Arbeitsstellen für gelernte Berufsleute gibt es in den bestehenden Betrieben wenige." Deshalb suchten viele Zugezogene ihr Glück in der Selbständigkeit, doch nur wenige könnten sich auf die Dauer im äußert harten Konkurrenzkampf behaupten.

Weiss beschäftigt neben seinem Sohn Alexander erstaunlicherweise nur Spanier und erklärt dazu: ýIch habe es anfangs mehrmals mit jungen deutschen Malern versucht. Doch sie ließen sich zu sehr vom leichten Leben hier im Süden beeinflussen." Kritisch zu den Neustartern äußert sich auch der Deutsche Conny Rederer, seit 1984 erfolgreicher Wirt im ­Restaurant Alt Hamburg: ýIch habe in all den Jahren immer wieder junge Landsleute mit falschen Freizeitvorstellungen und ohne ausreichendes berufliches Können auf die Insel kommen und nach kurzer Zeit scheitern sehen."

Gesicherte Bierfreuden

Der Boulevard ist Lebensnerv und Seismograph der Stimmung in Peguera. Dass sich das wirtschaftliche Klima im Ort seit Einführung des Euro verschlechtert hat, spürt man in zahlreichen der Straße entlang aufgereihten Geschäften deutlich. Im Zentrum werden derzeit für gut zwei Dutzend Lokale neue Mieter oder Käufer gesucht. Betroffen ist vor allem das Gastgewerbe.

Große Hotels bieten heute ­Arrangements mit Halb- oder Vollpension an. Deshalb bleiben in den meisten der ohnehin allzu zahlreichen Gaststätten des Ortes tagtäglich viele Tische leer. Dazu kommt, dass den Feriengästen das Geld nicht mehr so locker wie früher in der Tasche sitzt. Man schränkt deshalb die Besuche in den teuren Lokalen etwas ein und sucht instinktiv ýdie kleine Kneipe in unserer Straße", in der das Leben lebenswert, das Essen deftig und preisgünstig und der Wirt Bezugsperson ist.

Das dürfte den Erfolg von ­Enriques Tapaslokal, von ­Connys Alt Hamburg, des von Efeu umrankten Lokals ýLas Poetas" und zahlreicher anderer kleiner Beizen in den ­Nebenstraßen Pegueras erklären. Selbstverständlich gibt es in allen anderen Geschäftszweigen ebenfalls Zufriedene und Erfolgreiche. Zu ihnen gehört beispielsweise Marc Dietrich Seeger, Geschäftsführer der seit 25 Jahren bestehenden Firma Rent a bike. Das groß aufkommende Fahrradfahren belebt den Geschäftsgang. Seeger erfreut: ýZu unsern Kunden gehören mehr und mehr rüstige Seniorinnen und Senioren."

Ayhan Güler strahlt ebenfalls Zufriedenheit aus. Der gelernte Schneider aus Istanbul zog in jungen Jahren nach Deutschland, arbeitete zehn Jahre in Heidelberg, wechselte im Jahre 2000 nach Peguera und besitzt seither auf dem Boulevard eine Schneiderei für Lederbekleidung. Der 41-jährige Türke mit deutschem Pass ist zu 90 Prozent für deutsche Kunden tätig, zwischendurch auch für englische Stammgäste des nahen Hotels Villamil und für Schweizer aus der Siedlung Hapimag.

Aus dem Ortsbild nicht wegzudenken ist Manuel Bermejo. Seit über 40 Jahren ist er als Straßenhändler mit seinem Esel in Peguera unterwegs und ­bietet den Touristen von seiner Familie hergestellte Tonwaren an. ýDerzeit kauft niemand, es ist himmeltraurig", klagt der kleine Mann. Das Lachen hat er trotzdem nicht verlernt und zieht als Notmaßnahme von den Fotografierenden, die ihn als Fotosujet benützen, einen Euro als Futterbeitrag für den Vierbeiner ein.

Am Ostende des Boulevards wird derzeit der Boden über der Tiefgarage neu betoniert, was die Bierliebhaber freuen dürfte. Letztes Jahr konnte das Oktoberfest auf dem Platz nur stattfinden, weil man den brüchigen Boden überall mit Pfeilern abstützte. Mit der Sanierung eliminiert man nun die Einsturzgefahr und ermöglicht damit einigen tausend Festbrüdern und -schwestern erneut Oktoberfestfreuden in Peguera - hoffentlich mit etwas humaneren Preisen als im Vorjahr.