Von Brigitte Kramer

Auf den Balearen leben Menschen aller Kontinente, aber auch Wesen aus anderen Welten. Wer Letztgenannte kennenlernen will, der sollte sich einmal mit José Francisco Argente zusammensetzen, vielleicht an einer Quelle im Wald oder einem Stein am Wegesrand, und ihm zuhören. Der 57-jährige gebürtige Katalane lebt in Montuïri und verfolgt auf Mallorca seit ývielen, vielen Jahren" die Spuren von Riesen und Zwergen, bösen Frauen und guten Feen, fliegenden Pferden und hilfsbereiten Gottesanbeterinnen.

Dieses magische Erbe will Argente, hauptberuflich Yogalehrer, an seine Mitmenschen weitergeben. Ein Buch ist in Planung, für den Regionalsender IB3 hat er eine zwölfteilige Serie zu ýMythen der Inseln" konzipiert, auf Anfrage hält Argente Vorträge, wie jüngst beim ersten Fantasy-Festival Mallorcas.

Die Funktion einheimischer Zwerge und Elfen im Leben der Menschen lasse sich nicht auf kurzweilige Unterhaltung und schnellen Grusel reduzieren, sagt er. ýFrüher haben die Menschen aktiv ihre eigenen Mythen geschaffen, heute sind sie passive Konsumenten fremder Geschichten", sagt er. Was den Mallorquinern einst Na Maria Enganxa, El Compte Mal oder die Dones d´Aigo waren, das sind ihnen heute Harry Potter, Spiderman oder Gandalf der Zauberer.

Dieser Kulturimport zeige, so Argente, dass die Mallorquiner ihre eigenen Wurzeln vergäßen, gleichzeitig aber ein großes Bedürfnis nach Magie und Fantasie im Alltag bestehe. ýMythen sind Teil der Kultur einer Volksgruppe. Sie verleihen ihr Identität, erfüllen ein menschliches Grundbedürfnis nach Zusammengehörigkeit und verbinden den Menschen mit seiner Umwelt", sagt Argente.

Wer sich im Alleingang auf Spurensuche begeben möchte, der kann sich einen der 24 katalanischsprachigen Bände ýRondaies Mallorquines" (Mallorquinische Märchen) von Antoni M. Alcover kaufen (Ed. Moll, 5,50 Euro) oder sich von Argente an einige magische Plätze der Insel führen lassen. Denn den meisten Figuren sind auf der Insel Orte zugeordnet.

Hier eine kleine Auswahl:

Quellen, Wasserfälle, Bäche

Hier warten die Dones d´Aigo, die Wasserfrauen, auf männliche Besucher. Sie haben ein verführerisches Äußeres mit langem, blondem Haar, das sie mit einem goldenen Kamm kämmen, verstecken aber eine körperliche Missbildung, meist einen Gänsefuß. Ein Märchen erzählt von einem gewissen Biel Perxanca aus Pollença, der sich in eine Wasserfrau verliebte, sie heiratete und mir ihr zwei Kinder hatte. Er hielt sich allerdings nicht an das Versprechen, das alle Dones d´Aigo ihren Männern abnehmen: Sie nach der Trauung nie mehr als Wasserfrau zu bezeichnen. Perxanca tat es doch - da nahm die Frau ihre Kinder und stürzte sich mit ihnen in einen Brunnen im Carrer Montisió in Pollença. Ihr Wehklagen ist noch heute zu vernehmen.

Brunnen

Dort lebt die Hexe Na Maria Enganxa (etwa: die Maria, die festhält). Sie zieht mit ihrer haarigen, großen Hand Kinder in die Tiefe.

Der Berg Galatzó

Hier reitet jedes Jahr zur Sonnenwende die ruhelose Seele des Conde de Formiguera, Spitzname Compte Mal (Graf Böse), auf einem Pferd in grünen Flammen durch die Nacht. Er lebte im 17. Jahrhundert in Santa Margalida, wo er mit den Bewohnern wegen Steuern und Abgaben im Streit lag. Nach einer Reihe von Bluttaten, die ihm zugeschrieben wurden, flüchtete sich der Graf auf seine Ländereien am Fuß des Galatzó.

Fliegenpilze (Amanita Muscaria)

Überall, wo Fliegenpilze wachsen, gibt es auch die Dimonis Boiets (Kobolde, Zwerge). Sie leben in den Pilzen, unter der Erde oder auch in den Häusern. Sie sind sehr lebhaft und fleißig. Man kann sie, wenn man sie im Wald findet, einstecken, weil sie im Haus sehr nützlich sein können, vorausgesetzt, man hält sie unter Kontrolle. Wenn ihr neuer Besitzer ihre Frage ýQue farem, feina, feina!" (Was sollen wir tun, Arbeit, Arbeit!) beim dritten Mal nicht beantwortet hat, stürzen sie sich auf ihn und bringen ihn um. Den Gutsverwalterinnen waren sie ein Graus, weil sie alles umräumten, verschütteten oder versteckten. Um sie fortwährend beschäftigt zu halten, trugen sie den Zwergen unmögliche Arbeiten auf, wie schwarze Schafwolle weiß zu waschen oder die Sterne des Firmaments zu zählen.

Wildnis

Wer sich beim Wandern verirrt oder nicht weiß, welchen Weg er einschlagen soll, der kann eine Cavall de serp, eine Gottesanbeterin (Mantis religiosa), suchen und sie sich auf die Handfläche setzen. Sie wird sich zunächst drehen und, sobald sie in Gebetshaltung verharrt, mit ihrem Kopf die Richtung vorgeben.

Inca, Esporles, Llucmajor

In diesen und anderen Gemeinden der Insel sind noch heute die Bremsspuren des fliegenden Pferdes von König Jaume I., Eroberer Mallorcas, zu sehen. ýSes potadetes", zwei Huftritte in Stein, zeugen auf dem Anwesen Ses Casesnoves in Esporles neben einer großen Steineiche von der Landung des Gauls im 13. Jahrhundert. Am dritten Tag nach Ostern werden dort bei dem großen Volks-essen ýPa amb caritat" Brote und Pasteten mit den Armen geteilt.

Der Berg Randa

Der Tafelberg im Inselinneren sowie andere Landstriche Mallorcas entstanden, weil ein Gegant, ein Riese, das Gleichgewicht verlor. Er kam aus Algerien übers Mittelmeer gewatet, unter jedem Fuß ein Schiff. Als die beiden Schiffe bei Cabrera auseinanderdrifteten, musste er sich mit seinem Stock auf Mallorca abstützten - so entstand der Pou de Cala Pi, der Brunnen von Cala Pi. Er stolperte darauf

über den Gebirgszug Serra de Galdent in Llucmajor und spaltete ihn an der Stelle, die heute ýSa sopegada des gegant" genannt wird (der Stolperer des Riesen). Als er schließlich stürzte, fielen ihm die Steine aus dem Korb, den er auf dem Kopf trug. Der größte davon bildete den Berg Randa. Ein Schweißtropfen des Gesellen speiste zudem die Süßwasserquelle Na Tomasa am Fuß des Berges.