Das alte Theater sa Societat im Dorfkern von Calvià Vila war bis zum letzten Platz gefüllt, als Xavier Terrasa García kürzlich sein Buch „Calvià – Imágenes del Pasado" (Calvià – Bilder aus der Vergangenheit) vorstellte. Mit schwarz-weißen Bildern und kurzen Begleittexten wird darin auf das Leben in Calvià von etwa 1880 bis zum Beginn des Tourismuszeitalters eingegangen. Zur Beschaffung des Fotomate­rials wählte der in der Gemeinde zur Welt gekommene 29 Jahre junge Historiker einen ebenso unkonventionellen wie direkten Weg: Er läutete in der Vorbereitungsphase im vergangenen Jahr an vielen Türen im Dorf, brachte sein Anliegen vor und fand bei 30 Familien Gehör, die ihn aus privaten Fotoalben auswählen ließen.

Calvià hat eine geradezu atemberaubende Geschichte hinter sich. Es entwickelte sich in gut einem halben Jahrhundert von einer der ärmsten Gemeinden Mallorcas zur reichsten in ganz Spanien. Für die heutigen Feriengäste ist es kaum mehr vorstellbar, dass die Einheimischen hier (wie auch in anderen ländlichen Regionen der Insel) bis weit ins vergangene Jahrhundert hinein zeitweise Hunger litten. Daran trugen zwölf mallorquinische Adelsfamilien die Hauptschuld. Diesen Adligen gehörte der Großteil des Bodens in ganz Mallorca, in Calvià beispielsweise fast 80 Prozent der gesamten Gemeindefläche. Allein das Landgut des Marqués de Bellpuig umfasste 1.400 Hek­tar. Die Adeligen pflegten in ihren Stadtpalästen in Palma zu leben, setzten auf ihren riesigen Landgütern alle sechs Jahre Pächter ein, kassierten den Pachtzins und kümmerten sich im Übrigen keinen Deut um die Landbevölkerung. Da arbeitswillige Hände im Überfluss vorhanden und die Löhne entsprechend gering waren, fristeten die meist als Tagelöhner beschäftigten Calvianer ein kümmerliches Dasein. In Zeiten von Missernten blieben nur zu oft Arbeit und Entschädigung aus, was zur Auswanderung zwang. Historiker Xavier Terrasa García: „Viele Emigranten aus Calvià fanden in Kuba als Kohlenarbeiter oder Schwammtaucher Arbeit, andere suchten in Argentinien, Frankreich und Marokko als Küchenhilfen, als Händler oder in irgendeiner anderen Tätigkeit Geld zu verdienen."

Wie schmerzhaft die erzwungene Auswanderung manchmal gewesen sein muss, lässt das Buch an verschiedenen Stellen erahnen. So wird von Francesc Bujosa Sans berichtet, der im Januar des Jahres 1920 heiratete und schon wenige Tage nach der Hochzeit zur Emigration nach Kuba gezwungen war. Selbst kaum dem Kindesalter entwachsenen Jugendlichen blieb dieses Schicksal nicht erspart. Ein Bild im Buch zeigt Pep Mas Simó, der 1926 als Zwölfjähriger im französischen Verdun mit einem kleinen Dreiradwagen als Fruchtverkäufer sein Leben zu fristen sucht. Einen anderen Zwölfjährigen sieht man als Bäckergesellen um 1930 in Palma arbeiten.

Erst der aufkommende Tourismus setzte der Latifundien(miss)-wirtschaft zumindest teilweise ein Ende. Xavier Terrasa García führt aus: „In den adeligen Familien pflegten die ältesten Söhne das ertragreiche Land im Insel­innern zu erben, die jüngeren Kinder oder weniger geliebte Erbberechtige mussten sich mit den für damalige Begriffe wertlosen Küstenabschnitten begnügen." Als das Interesse am Meer dann sprunghaft zuzunehmen begann, verwandelten sich die Küstenstreifen über Nacht zu Goldgruben für ihre Besitzer, während das „gute Land" von früher an Interesse und an Wert verlor. Das stürzte den Inseladel, der sich in seinem berühmten Club „Círculo Mallorquín" in Palma stets gegen alle neuen Einflüsse abgeschottet und ausschließlich sich selbst gefeiert hatte, in eine böse Krise. Bald war kein Geld mehr für den Unterhalt der Stadtpaläste und der Landgüter da, nach und nach musste Land verkauft werden.

In Calvià konnten so zahlreiche Einwohner und Rückkehrer etwas Boden kaufen und bewirtschaften. Doch war das Leben weiterhin nicht einfach. In vielen Familien erinnert man sich noch gut an die ersten aufbrechenden sozialen Konflikte, die 1932 in einem Streik der Olivenpflücker mündeten. Im dreijährigen Spanischen Bürgerkrieg stand Calvià wie praktisch ganz Mallorca auf der Seite Francos, im Dorf bestand, wie ein Bilddokument belegt, eine weibliche Falangisten-Organisation.

Auch in schwierigen Zeiten gab es stets ein Dorfleben, gesellschaftliche Kontakte und eine gewisse Gruppendynamik. Auf einem Bild blickt man in einen Raum, in dem junge Frauen des Dorfes an Nähmaschinen ausgebildet werden. Auf anderen Fotos sieht man Teilnehmer bei einem Schlachtfest und Familienmitglieder, die bei einer Feier den traditionellen Kakao mit Ensaimadas auftischen.

In dem Buch werden Ereignisse wie die großen Schneefälle (1934 und vor allem 1956) dokumentiert und an die aus Calvià stammende Arztdynastie Juaneda erinnert. Nofre Juaneda gründete nach seiner Ausbildung in Frankreich 1917 die erste Privatklinik Mallorcas und ist als Pionier für chirurgische Eingriffe in die Inselchronik eingegangen. In einem anderen Kapitel streift man die am Ende das 19. Jahrhunderts praktisch noch menschenleeren Küsten Calviàs. Auf einem vor 100 Jahren aufgenommenen Bild steht in Peguera erst ein einziges weißes Sommerhaus, das sein Erbauer Palmira taufte und damit dem heutigen Palmira-Strand den Namen gab.

Bleibt abschließend zu bemerken, dass bei der Entstehung dieses bebilderten Rückblicks der Zufall hübsch mitspielte. Bei einem Englandaufenthalt lernte Historiker Xavier Terrasa García den jungen Verlagsleiter Leandro de Gabriel Bernal kennen, erzählte ihm von seiner Idee und fand offene Ohren. Rasch leiteten die beiden die journalistischen und verlegerischen Vorarbeiten ein. Jetzt, ein Jahr später, liegt das Werk in einer Auflage von 1.500 Exemplaren und – was beim heutigen Katalanisch-Sprachdiktat auf Mallorca eigentlich erstaunt – mit Begleittexten in spanischer Sprache vor. Herausgeber Bernal kommentiert: „Ein Blick zurück in die jüngere Vergangenheit der reichsten Gemeinde Spaniens ist weit über den katalanischen Sprachraum hinaus und speziell auch in Madrid von Interesse."

Das Buch kostet 19 Euro und ist in vielen Läden in Calvià erhältlich.