Die Sonne geht gerade auf, als wir gegen halb acht Uhr morgens in Juans klapprigem Peugeot zum Schnecken sammeln losfahren. Eigentlich schon fast zu spät, denn die caragols mögen kein Tageslicht, wie mir Juan erklärt. „Da verkriechen sie sich."

Juan ist Mallorquiner, 38 Jahre alt und geht auf Schneckensuche, seit er denken kann. „Die sind einfach lecker." Während viele Deutsche – wie zum Beispiel ich – bei Weichtieren auf dem Teller angewidert das Gesicht verziehen, werden sie von den Einheimischen als Delikatesse geschätzt. Zur Tradition gehört aber nicht nur das Verspeisen, sondern ebenso die Suche und Zubereitung. Auf dem Rücksitz meint Juans Freund Paco (43): „Noch lieber als sie zu essen, mag ich das Sammeln. Man ist draußen in der Natur, konzentriert sich auf die Schnecken und vergisst alle schlechten Gedanken, die man sonst im Kopf hat." Paco ist seit ein paar Monaten arbeitslos, seitdem verdient er sich mit dem Verkauf von gefundenen ­Schnecken gern mal ein kleines Zubrot.

Rund um Llucmajor, wo Juan und Paco wohnen, kennen die beiden viele Schneckenplätze. Heute fahren wir auf einer mit Schlag­löchern gespickten schmalen Nebenstraße in Richtung Algaida. Dort, auf dem campo hinter dem Hexenberg (Puig de Ses Bruixes) schleichen wir in Gummistiefeln und mit Eimer und Plastiktüten ausgerüstet einen Feldweg entlang. An den Sträuchern und an dem Randmäuerchen ziehen massenweise kleine Schnecken ihre Schleimspur. Juan winkt ab. „Viel zu klein. Die lassen wir lieber noch ein bisschen wachsen." Paco zeigt mir, dass das Schneckenhaus richtig hart sein muss. Er drückt mit dem Finger auf den Rand des Eingangslochs, der Panzer gibt nach. Also auch noch zu jung. Die Schneckenart spielt dagegen keine Rolle. „Wir essen sie alle." Juan und Paco nennen sie bove (die großen, braunen), viuda (auch groß und braun, aber flacher) und caracola (die weißen).

Unterwegs in meditativer Konzentration, die Augen auf den Boden geheftet, reden wir nicht viel. Wir müssen genau hinschauen, denn die braun gestreiften ­Schnecken sind auf dem ebenfalls braunen Untergrund gut getarnt. Juan, der hinter mir geht, beschwert sich: „Silke, schau mal, was Du übersehen hast." Juan trägt den Beinamen búho, weil er so gut sieht wie eine Nachteule.

In der Gegend, wo wir jetzt sind, gibt es nur wenige Schnecken, aber die wenigen, die wir finden, sind groß und dick. Wir bejubeln jede einzelne. Und widmen uns auch dem naturkundlichen Aspekt. ­Paco findet ein ineinander ver­haktes Schneckenpaar. Interessant, so also haben die Zwittertierchen Geschlechtsverkehr. Auch ein paar winzige, weiße Kügelchen liegen auf dem Boden: Schneckeneier. Eine andere Schnecke hat ihr Haus schon mit einer festen Schleimwand winterfest gemacht. Zum Schluss haben wir einen halben Eimer voll.

Drei Tage später treffen wir uns wieder. Bis dahin bekommen unsere Schnecken als Henkersmahlzeit Mehl vorgesetzt, damit ihre Gedärme sauber werden. Doch bevor sie im Kochtopf landen, zupfen Pacos Frau Ana und ich noch Dreck weg und spülen die Tierchen, grob geschätzt, 30 Mal durch. So lange bis das Wasser schneckenschleimfrei klar ist. Dann kommt der entscheidende Punkt in der Prozedur: Das richtige Abtöten. „Man muss sie überlisten", sagt Ana. Und das geht so: Den Topf mit den Schnecken bei ganz wenig Gas erwärmen. Das lauwarme Wasser lockt sie weit aus ihren Häusern, so dass man sie später besser essen kann. Gerade noch versucht eine Schnecke über den Topfrand die Flucht, da dreht Ana das Gas auf Anschlag.

Ein Bündel frischer Kräuter aus Fenchel, Minze, Lorbeer, Rosmarin dazu und ein Stück Sobrassada-Haut. Das soll die Schaumbildung reduzieren. In einem würzigen Sud, den Ana noch mit Schinken, Speck und scharfer Paprika angereichert hat, stehen sie schließlich auf dem Tisch. Die Stunde der Wahrheit ist gekommen: Während Ana, Paco und Juan voller Vorfreude auf das lang erwartete Gericht zu ihren Stochern greifen, um die Schnecken aus ihren Häusern zu lösen und sie ins selbst gemachte Aioli zu tunken, meldet mein Magen Widerstand. Aber es hilft nichts, alle Augenpaare sind erwartungsvoll auf mich gerichtet. Ich klemme den vorderen essbaren Teil der Schnecke ab, zerkleinere sie bis zur Unkenntlichkeit und schlucke sie hinunter. Wie sie geschmeckt hat, weiß ich nicht wirklich, aber Juan sagt, dass die Schnecken wieder ganz ausgezeichnet sind.