Im Winter ist Mallorcas Küste besonders schön - vom Land aus. Spaziergänge an unbebauten Abschnitten wie dem von Portals Vells (Gemeinde Calvià) vermitteln ein Gefühl von Wildheit und Naturbelassenheit, wie es wohl auch schon vor, sagen wir, 550 Jahren spürbar war.

Damals strandeten in der engen Bucht im Südwesten Seeleute aus Genua. Sie waren auf ihrer Fahrt zum spanischen Festland in einen cap de fibló, einen Wirbelsturm, geraten. Sie kamen aus einer der am besten entwickelten und am dichtesten besiedelten Regionen Europas. Genua war zu Beginn der Neuzeit einer der wichtigsten Seehäfen des Alten Kontinents, dort sollten wenig später die Entdeckungsreisen der Neuen Welt beginnen. Mallorcas Südwesten hingegen war Mitte des 15. Jahrhunderts unbesiedeltes Niemandsland.

Dennoch segneten die Matrosen dieses verlorene Stück Erde, als ob es das Paradies wäre. Immerhin hatten sie mit leckem Rumpf, gebrochenem Mast und zerrissenen Segeln nicht mehr daran geglaubt, dem Tornado zu entkommen. In ihrer Not hatten sie an Bord gelobt, der Jungfrau Maria einen Altar zu errichten, falls sie jemals wieder festes Land betreten sollten.

Der Ort des eingelösten Gelübdes heißt „Ses coves de Mare de Déu“ (Die Höhlen der Gottesmutter). Er liegt rund hundert Meter vom kleinen Strand Portals Vells entfernt und verleiht ihm seinen Namen (Portals - Tore). Eigentlich ist es nur eine einzige, tiefe und ausladende Höhle. Doch weil ­Arbeiter im Mittelalter drei riesige, torähnliche Löcher in den Fels geschlagen haben, um ihn nach und nach auszuhöhlen, spricht man von diesen Höhlen an der Küste im Plural. Der Sandstein wurde zum Bau der Kathedrale und von Stadtpalästen mallorquinischer Handelsfamilien nach Palma transportiert. Übrig blieb ein dunkles Loch, das den Seeleuten als Unterschlupf diente, so will es die Legende.

Heute gruseln sich hier vor allen Dingen die Kinder. Nicht nur im stockdusteren hinteren Teil der Höhle. Auch beim Anblick des von Seemannshand geritzten Altars neben dem ersten Eingang wird einem mulmig. Die für heutige Gewohnheiten unstimmige Kombination von religiösen, weltlichen und alchimistisch anmutenden Zeichen wirkt befremdend: Ein INRI neben einer Sonne, schlangenähnliche Formen, Blüten, Ornamente, die an offene Drachenmäuler erinnern … Zum Glück gibt es die Legende der Genueser Seeleute. Denn steht man vor dem Halbrelief, denkt man eher an schwarze Magie und exotische Riten als an Katholiken aus Italien.

Dass der christliche Glaube um 1450 mit dem heutigen wenig gemein hat, das dämmert einem schnell an diesem Ort. Am Ende des Spätmittelalters vermischten sich beim Volk noch Aberglaube mit Heiligenverehrung. Es war eine Zeit, in der die Kirche mit Inquisition und Hexenverbrennungen die Religion vereinheitlichen wollte und so gut wie niemand lesen konnte. Der Buchdruck war gerade erst erfunden. Mündliche Überlieferungen, Bibelsprüche und Legenden bildeten zu Beginn der Renaissance ein gehaltvolles Glaubenselixier.

Der Altar von Portals Vells zeugt davon. Die Seeleute fanden an der Küste Mallorcas nicht nur körperliche, sondern auch spirituelle Zuflucht. Sie schufen sich eine Stätte zum Beten, schlugen eine Nische in die Felswand und stellten darin eine Marienfigur auf, die sie an Bord hatten. Viele Jahre lang diente der handgemachte Altar den Einwohnern von Calvià als Pilgerort. Doch nachdem im Jahr 1866 ein herabfallender Felsblock die Figur beinahe zerstört hätte, wurde sie in die eigens erbaute Kapelle „Oratorio de Portals Nous“ in der Nähe gebracht.

Ihres spirituellen Kerns be­raubt, von Graffiti verunstaltet und teilweise auch verschmutzt wirkt die Höhle heute sinnentleert und fehl am Platz. Besonders im Sommer: Badegäste, Rettungsschwimmer und Jet-Ski-Fahrer tummeln sich im glitzernden Wasser … wer denkt da schon an die Pein spätmittelalterlicher Seeleute? Doch wenn das Meer wild ist und der Wind tobt, dann sollte man den Weg suchen, der zu vergessenen Seelenzuständen führt.

In der Printausgabe lesen Sie außerdem:

- Inselgeschichten: Die Mallorca-Bauernkalender 2010

- Im Selbstversuch: Pimp my home

- Wegweiser: Wanderung bei Valldemossa

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