Junípero Serra war bereits 55 Jahre alt, als in Niederkalifornien sein Lebenstraum in Erfüllung ging. An diesem 15. Mai 1769 standen zwölf Cochimí-Indianer vor ihm, und sie waren nackt wie „Adam vor der Vertreibung aus dem Paradies". Der Missionar küsste die Erde vor Freude, „um meinem Herrn zu danken, dass Er es mir nach so vielen Jahren der Sehnsucht nach ihnen erlaubt, unter ihnen in ihrem Land zu sein", wie er in seinem Tagebuch festhielt.

Der allenthalben als „Gründervater Kaliforniens" bekannte Mallor­quiner, dessen Geburtstag sich am 24.11.2013 zum 300. Mal jährte und der im September 2015 von Papst Franziskus heiliggesprochen werden soll, war ein vom Glauben Besessener mit eisernem Willen. Heute würde man sagen: ein ­religiöser Fanatiker. Was ihn antrieb, aber auch, was er anrichtete, hat der Historiker Steven W. ­Hackel in einer hervorragenden, in den USA erschienen Biografie zusammengetragen („Junípero Serra. California´s Founding Father", Verlag Hill and Wang, 19,60 Euro).

Es waren andere Zeiten. Finstere Zeiten. Miquel Joseph Serra - so sein Name bis zum Eintritt in den Franziskaner-Orden - wurde in eine Familie geboren, die trotz bescheidenem Landbesitz von Kindersterblichkeit und Armut gebeutelt war. In einen kleinen Ort, Petra, der von Hungersnöten und Epidemien gezeichnet war. Auf eine Insel, die unter den hohen Abgaben an örtliche Adelige und ferne Herrscher ächzte. In eine Welt der Intoleranz, in der noch eine Generation zuvor 37 Menschen wegen vermeintlich jüdischer Glaubenspraktiken stranguliert und auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden waren.

Die einzige Institution, die Halt gab, war die Kirche, und sie war allgegenwärtig. Ganz in der Nähe des Geburtshauses befand sich das Convento de San Bernardino. Der Junge ging dort bei Franziskanern zur Schule und „wuchs ganz unmittelbar unter der Kirchen­glocke auf, deren Läuten den Rhythmus, die Stimmungen und die Rituale des Lebens bestimmte".

Wohl als er 16 Jahre alt war, übergaben ihn seine Eltern, Antonio und Margarita, dem Franziskaner-­Seminar in Palma. Der Junge unterwarf sich den strengen Regeln des Armutsgelübdes und der Selbstkasteiung, fand in der Glaubens­gemeinschaft einen Ersatz für die verlorene Familie und sog die großen, aber gemeinhin eher konformistischen theologischen Diskurse des von Franz von Assisi gegründeten Bettelordens auf. „Vieles von dem, was Serra lernte, kam über die Ideen von Ramon Llull und Johannes Duns Scotus direkt aus dem Mittelalter", so Hackel.

Der fortan Junípero genannte wurde zum Priester geweiht und später auch zum Philosophie-­Dozenten an der Universität Llulliana in Palma ernannt. Er war ein scharfer Denker und begnadeter Rhetoriker, der sich sehr bald innerhalb und außerhalb des Ordens einen Namen machte. Mallorca erlebte in den 1740er Jahren die wohl schwierigste Zeit seit Ausbruch der Pest im 14. Jahrhundert. Die sogenannten Kleine Eiszeit brachte die Landwirtschaft fast zum Erliegen, Hunger und Krankheiten rafften die Menschen dahin - und dennoch erhöhten die Bourbonen immer weiter die Abgaben und zogen Hunderte Männer ein, um sie als Soldaten in die österreichischen Erbfolgekriege zu schicken. Junípero Serra tröstete die Gläubigen in vier überlieferten Predigten, die er 1744 in der Fastenzeit im Kloster Santa Clara hielt: Hinter alledem stünde ein göttlicher Wille. Für ihn, der sich jeden Abend blutig geißelte, war Leid ein ­Geschenk Gottes.

Spätestens 1748 fasste Junípero Serra den Entschluss, dem Werben der Franziskaner um Missionare für Mexiko zu folgen. Das war nicht ungewöhnlich: Mallorca verfügte über eine lange Missionars­tradition, und Serra hatte sich mit ihr sowie mit Schlüsselfiguren seines Ordens wie dem in Peru tätigen Heiligen Franziskus Solanus intensiv beschäftigt. Nachhaltig beeindruckt war er zudem von den Visionen einer spanischen Nonne, María de Jesús Agreda. Auf Geheiß der Jungfrau Maria, von Engeln transportiert und in eine Franziskaner-Kutte gehüllt, so behauptete María de Jesús Agreda, bekehre sie in Neu­mexiko die Heiden - wohlgemerkt, ohne dabei ihr Kloster in Soria zu

verlassen.

Bemerkenswert unsentimental verabschiedete sich der damals 35-Jährige von Mallorca von seinen Eltern, die ihn - so ließ er den beiden kurz nach Abreise in einem Brief ausrichten - „nie wieder sehen würden". Es mag ihm ein Trost gewesen sein, dass sein Schüler, engster Vertrauter und späterer Biograf, Francisco Palou, ihn begleitete. Vor allem aber, so Hackels Interpretation, wurde er ja nicht wirklich heimatlos, denn „er würde nie hinter sich lassen, was ihm am wichtigsten war: seinen katholischen Glauben".

Die Reise bis zum Colegio de San Fernando, der Franziskaner-Zentrale in Mexiko-Stadt, war beschwerlich: Allein drei Monate dauerte die Überfahrt zwischen Cádiz und Veracruz. Dort angelangt setzte ­Serra die Reise, wie in einem Bettlerorden statthaft, zu Fuß fort, und zog sich bald nach der Ankunft wohl durch Insektenstiche eine Infektion am linken Bein zu, die nie wieder ganz heilen und ihn Zeit seines Lebens an das Leid Christi gemahnen sollte. Es war eine Wanderung durch eine fremde Welt, und Serra wäre nicht Serra gewesen, wenn er nicht überall göttliche ­Zeichen wahrgenommen hätte.

Nach einer Zeit der Eingewöhnung im Colegio de San Fernando wurden Serra und Palou die ­Missionsstationen der Sierra Gorda, im heutigen Bundesstaat Querétaro zugewiesen. Dort lebten die Pames-Indianer, ein Volk, an dem sich die Spanier schon seit über zwei Jahrhunderten die Zähne ausbissen. Trotz aller Bemühungen wechselnder Orden lebten die Pames immer noch als brandrodende Halbnomaden in den Bergen. Obwohl bei der Ankunft der beiden Mallorquiner wohl mehrheitlich schon getauft, zeigten sie an den Spaniern nur wenig Interesse.

Junípero Serra und seinen Leuten gelang es zwischen 1750 und 1758, viele von ihnen zumindest vorübergehend, wie er es nannte, „unter die Glocke zu bringen", sie also über den Ackerbau an ein sesshaftes Leben und die Missionsstation zu binden. Die zuvor von eingeschleppten Krankheiten dezimierte Bevölkerung wuchs wieder, es gab landwirtschaftliche Überschüsse zu verteilen - auch an die Pames.

Dabei herrschte ein strenges Regiment: Die Pames hatten sich voll und ganz den Glaubensbrüdern zu unterwerfen und wurden, bei Verletzung der Regeln, körperlich gezüchtigt. Mit ihrer Arbeitskraft und ihren künstlerischen Fähigkeiten ließ Serra, ein talentierter Verwalter und Bauträger, eine ganze Reihe beeindruckender Kirchen errichten. Ansonsten aber fällt die Bilanz zwiespältig aus. Serra und Palou stritten mit Siedlern und wurden womöglich auch deswegen bereits 1758 wieder abgezogen. In der Folge verfiel ihr „Werk" rasant: Zwei Anführer der Pames erhoben schwere Anschuldigungen wegen der „exorbitanten Härte, der unerträglichen Arbeit und den grausamsten Strafen" unter den Franziskanern, und bald verließen die meisten Indianer die schließlich 1770 aufgegebenen Missionssta­tionen wieder.

Die Mallorquiner kehrten in die Zentrale in Mexiko-Stadt zurück und wurde von dort aus gemeinsam mit anderen Mönchen regelmäßig als eine Art Wanderprediger in die Landen geschickt. Serra tat sich auf diesen Missionen durch eine ausgeprägte Theatralik hervor, schwenkte mit Kerzen ausgeleuchtete Totenköpfe umher und kasteite sich mit Verve, um für die Sünden der Umstehenden zu büßen. Dass er seit 1752 zugleich ein ­comisario der Inquisition war und sich als solcher auch mit ­Hexenprozessen beschäftigte, dürften zum respekteinflößenden Auftreten weiter beigetragen haben.

Junípero Serra wäre wohl nicht weiter in die Geschichte eingegangen, wenn nicht ab den 1760er Jahre ein politischer Umbruch eingesetzt hätte. Karl III. beschloss, die auf ein einheitlicheres und zentralisierteres Staatsgebilde abzielenden bourbonischen Reformen - deren Auswirkungen Mallorca zuvor schon am eigenen Leib erfahren hatte - auf die Kolonien auszuweiten. Nach Mexiko schickte er dazu einen mächtigen Generalbevollmächtigten. José de Galvez krempelte die gesamte Verwaltung um und nahm sich insbesondere vor, die nördliche Grenze des bis in die heutige USA hineinragenden ­Vizekönigsreichs von Neu-Spanien zu sichern. Zudem verbannte Karl III. 1767 ohne Vorwarnung die als zu mächtig und unabhängig empfundenen Jesuiten aus Amerika. Für die Franziskaner eröffnete dies ein ganz neues Betätigungsfeld:

Niederkalifornien.

Siebzig Jahre lang hatten die ­Jesuiten auf der wüstenartigen Halbinsel versucht, die nomadischen Indianer zu Ackerbau und Siedlungen zu bewegen. Sie stießen dabei nicht nur auf erheblichen kriegerischen Widerstand, sondern richteten auch mit ihren Krankheiten großes Unheil an: Bereits bevor Serra, Palou und ein weiterer mallorquinischer Missionar, Juan Crespí, die Stationen übernahmen, war die Bevölkerung Niederkaliforniens von knapp 48.000 auf etwa 7.000 Menschen zusammengeschmolzen. Die Franziskaner gingen genauso vor wie die Jesuiten, versuchten, die Menschen zusammenzutreiben - und mussten nach nur drei Jahren feststellen, das noch einmal 2.000 Menschen gestorben waren. Folgerichtig setzten sie bald alles daran, Niederkalifornien so schnell wie möglich wieder zu verlassen und die Verantwortung an die Dominikaner abzugeben.

Stattdessen richteten sie gemeinsam mit dem Generalbevollmächtigten Galvez, der auf Geheiß von Madrid eine befürchtete russische Expansion entlang des Pazifiks verhindern sollte, den Blick nach Norden, dem heutigen Kalifornien. Es waren Gegenden, in die - bis auf einzelne Anlandungen im 16. Jahrhundert - noch kein Weißer vorgedrungen war. Ein gelobtes Land für Serra, ohne kolo­niale Verwaltungsstrukturen, Siedler und Soldaten, nörgelnde Indianer oder tückische Hexen -„nur ´arme´ und ´nackte´ Menschen, die mit der katholischen Lehre neu erschaffen werden konnten", wie es Hackel zuspitzt.

Doch was den Spaniern primitiv vorkam, war es keineswegs. Etwa 310.000 Ureinwohner lebten zu diesem Zeitpunkt im heutigen Kalifornien, 60.000 von ihnen im Küstengebiet zwischen San Diego und San Francisco. Sie sprachen zwischen 80 und 100 Sprachen und hatten sich über die Jahrhunderte hinweg perfekt an ihre Umgebung angepasst. „Ihre Ernährung war weitaus ausgewogener als die, die die Spanier einführen würden. Und ihr Lebensunterhalt benötigte wesentlich weniger Arbeit, Organisation und Zwang als das, was die Spanier ihnen anzubieten hatten", so der US-Historiker. Viele von ihnen waren Jäger und Sammler, die ein ausgeklügeltes System entwickelt hatten, im Zehn-Jahres-Rhythmus ganze Landstriche brandzuroden, damit sich Tier- und Pflanzenwelt wieder erholen konnte.

Mühsamst rückten Missionare und Soldaten über die Jahre in dieses Gebiet vor. Nach und nach entstand so eine „Leiter gen Norden": Missionsstationen, die in jeweils dreitägigen Etappen untereinander erreicht werden konnten und aus denen letztlich die heutigen Millionen­städte Kaliforniens hervorgehen sollten. Die Spanier wählten die Standorte aus, beschenkten und kontaktierten die örtlichen Bewohner, tauften zunächst ihre Kinder, später auch Erwachsene, und ordneten deren gesamtes Leben neu. Es gab etliche Rückschläge, Versorgungsengpässe und auch Angriffe - die Missionsstation San Diego wurde zweimal von den Kumeyaay überfallen -, aber Junípero Serra blieb hartnäckig. Er hatte seine Lebensaufgabe gefunden und würde sie nicht mehr loslassen.

Die Eroberung des Nordens war ein militärisch-religiöses Unterfangen, Serra aber beanspruchte für die Franziskaner die absolute Kontrolle über die neuen Untertanen. Damit geriet er in immer schärfere Konflikte mit Gouverneuren, Verwaltern und Offizieren, welche die Indianer eher als Bürger oder zumindest als Steuerzahler begriffen denn als bemitleidenswerte und zu bekehrende Geschöpfe. Indem er sich über alle Hierarchien hinwegsetzte und sich direkt der Unterstützung des spanischen Vizekönigs versicherte, behielt Junípero Serra ein Weile die Überhand. Unter anderem konnte er so verhindern, dass die Indianer in den Missionen eigene Ratsobere wählen durften. Vor allem an einer Frage entzündete sich immer wieder Streit: Wer war dazu berechtigt, die Indianer körperlich zu bestrafen? „Im Einklang mit den die Aufzucht von Kindern betreffenden Naturgesetzen" war die Züchtigung für Serra ein unverzichtbarer Teil des franziskanischen Herrschaftssystems (wobei er nicht blutrünstig war, ja, verschiedentlich sogar um Vergebung von Indianern bat, die Missionare getötet hatten).

Zeitgemäß aber war das nicht mehr, und so geriet Serra gegen Ende seines Lebens - er starb ­71-jährig am 28. August 1784 in Carmel - immer weiter ins Abseits. Aus seinem Bestreben, Ungläubige unter die Kirchenglocke zu bringen, war Starrsinn geworden. Nach Serras Tod erlebten die kalifornischen Missionen eine kurze, auch kulturelle Blütezeit. Doch auch hier beförderte das Zusammenleben in Siedlungen die schnelle Ausbreitung von Krankheiten. Die Missio­nare sahen Ursache und Wirkung nicht und trieben stattdessen immer mehr Menschen aus immer entfernteren Gegenden zusammen. Gegen 1820 war die Bevölkerung weitgehend kollabiert. „Die Missionsstationen bildeten für die Indianer eine wackelige Brücke zwischen der Welt ihrer Vorfahren und der der Spanier", bilanziert Hackel, „was Serra nicht mehr erlebte und verstand, war, dass für viele von ihnen diese Brücke in den Tod führte."

Erstmals erschienen in der Mallorca Zeitung vom 21.9.2013