Gibt es das noch, das echte Mallor­ca? Orte, die ihre Ursprünglichkeit wahren, inmitten der Ferieninsel? Der ­Geograf und Autor Climent Picornell hat sich auf die Suche begeben, im Pla, der Ebene im Herzen der Insel. In Dörfern wie Sant Joan, Sineu, Petra. 40 Geschichten hat er im Laufe der Jahre gesammelt, die nun als Buch erschienen sind: „Mallorca Profunda?" Picornell hat den Titel mit einem Fragezeichen versehen. „Das ursprüngliche Mallorca - Mallorca profunda -ist eine Erfindung der Leute aus Palma", sagt er in einem Telefon­interview. „Es wird aus Unwissenheit benutzt. Im Grunde ist es nicht mehr als ein Marketing­instrument."

Tourismus und Globalisierung seien - keine überraschende Analyse - die Ursachen für das Verschwinden des alten Mallorcas. Wenn überhaupt, finde sich etwas Ursprüngliches nur noch in der Landschaft. Die Felder würden von Hobbybauern bestellt. Und muslimische Frauen mit Kopftuch prägten das Straßenbild in den Dörfern mit.

„Die Dörfer im Herzen Mallorcas sind heutzutage Miniaturen von dem, was überall passiert, kontaminiert vom urbanen Lebensstil, standardisiert durch das Fernsehen und die sozialen Medien", schreibt Picornell. „Es wird Kokain geschnupft, es gibt Scheidungen und homosexuelle Lebensgemeinschaften, kaum jemand geht zur Kirche, alle sind sie bei Facebook (ein Stammkunde einer Bar bestellte ´ein Glas W-Lan´, weil er las, dass es gratis war), zusammenfassend: es ist alles wie überall."

Schlimm findet der Autor diese Veränderungen nicht. „Es ist ein ganz normaler Vorgang. Jeder Wandel hat gute und schlechte Seiten. Aber eines kann ich sagen: Keiner der älteren Menschen, die im Buch auftauchen, wünscht sich die alten Zeiten zurück."

Ein Großteil der 40 Geschichten in dem Buch sind bereits veröffentlicht worden. Viele in „Mel i Sucre", einer kleinen Publikation aus Picornells Heimatdorf Sant Joan. Andere in seinem Blog.

Der Autor mag zu einer deprimierenden Schlussfolgerung kommen, aber das Buch ist durchaus lesenswert. Picornell taucht in den Alltag der Dörfer ein. Mal ist er distanzierter Beobachter, mal sucht er das Gespräch in den Bars. Er trifft auf alte und auf junge Menschen, lässt sie von den alten Zeiten erzählen und aktuelle Ereignisse kommentieren. Selten führt er seine Charaktere ein oder beschreibt, was sie machen. Sie tauchen einfach auf und verschwinden wieder. Die Gespräche pendeln zwischen der Belanglosigkeit des Alltags und den kleinen, manchmal witzigen Weisheiten, die die Sprache und den Umgang der Mallorquiner in diesen Dörfern ausmacht.

Picornell sucht die Überreste der Traditionen, der Gewohnheiten und beobachtet die Verschiebungen in den gesellschaftlichen Strukturen. An manchen Stellen erklärt er diese Traditionen und Gebräuche, an anderen setzt er Wissen voraus. Es sind kurze, lebendige Texte, die manchmal in eine anthropologische Analyse münden.

„Wir sind ein Volk ohne Enthusiasmus", schreibt er über den Charakter der Mallorquiner. „Oder mit sehr unterdrücktem Enthusiasmus, mit einem Jahrhunderte langen Training - ich weiß nicht, ob auf der Grundlage von Prügel -, um gut dazustehen, oder, wenn es euch lieber ist, um nicht schlecht dazustehen. Das hat dazu geführt, dass wir übertrieben diskret und besonnen sind; nicht sagen, was wir denken; nicht machen, was wir wirklich wollen."

„Mallorca profunda?" ist ein Versuch, das Mallorca in den Dörfern von heute zu verstehen. Und Picornell ist sehr nah dran an diesem Leben, seine Beobachtungen sind überaus präzise. Das Buch ist kein Manifest. Es ist eine Momentaufnahme. Allerdings bleibt die Frage, ob jemand, der diese gesellschaftlichen Strukturen nicht kennt, der nicht eigene Erlebnisse in den Erzählungen wiederfindet, etwas mit den Geschichten anfangen kann. Ob sie eine Tür in eine unbekannte Welt öffnen oder ob sie ohne ein auch noch so minimales Hintergrundwissen

unverständlich und witzlos bleiben.

„Mallorca Profunda?" von Climent Picornell ist auf Katalanisch bei El Gall erschienen und kostet 12 Euro.