Die elektrische Straßenbahn in Palma war erst seit ein paar Stunden eingeweiht, als sie bereits das erste Menschenleben kosten sollte. Es geschah auf der abschüssigen Straße neben dem heutigen Parlamentsgebäude, dem Carrer Conqueridor, der hinunter zur Plaça de la Reina führt. Dort geriet die Straßenbahn an jenem 1. Juli vor 100 Jahren außer Kontrolle. „Wir stellten erstaunt fest, dass sie immer schneller fuhr, und unser Erstaunen wandelte sich in Schrecken", war in der Tageszeitung „Almudaina" vom 3. Juli 1916 zu lesen. „Der Triebwagen nahm gerade noch so die Kurve, doch der angehängte Waggon kippte um und riss auch den Triebwagen mit sich."

Die meisten Fahrgäste kamen mit leichten Verletzungen davon, 50 Personen wurden in den umliegenden Cafés und Apotheken provisorisch versorgt. Erst, als man die Waggons barg, wurde der zerquetschte Körper eines 17-jährigen Tischlers entdeckt. „Ein Schrecken durchfuhr die versammelten Menschen und ließ vielen von ihnen die Tränen in die Augen steigen. Arme Eltern! Armer Junge!"

Vor allem das Bremsen war anfangs nun einmal eine heikle Angelegenheit. In jenen Tagen, an die jetzt Palmas Stadtverwaltung unter dem Stichwort „100 Jahre öffentlicher Personennahverkehr" erinnert, wurde die euphorische Aufbruchstimmung aber nur kurz von dem Unfall überschattet. Zwei Tage später gelang der erste Flug zwischen Barcelona und Palma - der Fortschritt hielt im Eiltempo Einzug.

Wo früher von Maultieren gezogene Waggons Vertreter der feinen Gesellschaft auf Schienen durch die Straßen zogen, entstand nun nach und nach ein modernes Transportsystem, das die umliegenden Viertel mit dem Zentrum der Balearen-Hauptstadt verband. Die Stadtmauern, die noch bis Ende des 19. Jahrhunderts standen, wurden abgerissen. Die Bevölkerung strömte aus dem Umland, der part forana, in die Stadtviertel. „Man brauchte nun ein System für den öffentlichen Personentransport, das die Arbeiter jeden Tag von ihren Wohnungen zur Arbeit brachte und umgekehrt", schreibt Stadtchronist Bartomeu Bestard in einem Bericht zum anstehenden Jubiläum.

Erfahrung mit der Elektrifizierung hatte man auf Mallorca bereits dank der kurz zuvor in Betrieb genommenen Eisenbahn nach Sóller, die noch heute mit dieser Technik die Urlauber ins Orangental chauffiert. Die Straßenbahn, die zwischen Sóller und Port de Sóller verkehrt, war praktisch baugleich mit der in Palma. Die Projektausführung blieb denn auch in der Familie - das 600-Volt-Netz der Oberleitungen plante Pere Garau, Sohn des Ingenieurs gleichen Namens, der die Sóller-Bahn elek­trifiziert hatte. Für die Ausführung zeichneten die Gebrüder Queralt vom Siemens-Werk in Barcelona verantwortlich.

Die goldenen Zeiten

Neben einer Ringlinie in Palma fuhr die elektrische Straßenbahn als Erstes nach Porto Pí. Ein großer spanienweiter Generalstreik im Jahr 1917 unterbrach ­vorübergehend den Ausbau, danach aber ging es zügig weiter. Die 20er waren die goldenen Jahre der Straßenbahn in Palma, wie einer Aufzählung auf der Facebook-Seite „Fotos Antiguas de Mallorca" zu entnehmen ist: Hinzu kamen Linien nach Pont d´Inca, Ca´s Català, Es Molinar und Son Rapinya (1920), nach Coll d´en Rabassa (1921), nach Gènova und La Soledad (1922) oder nach Can Pastilla, Arenal und Establiments (1926). Die Marke von fünf Millionen beförderten ­Passagieren wurde bereits 1921 geknackt, und das Straßenbahnnetz wuchs bis 1935 auf eine ­Gesamtlänge von knapp 52 Kilometern.

Aus jener Zeit stammen auch die meisten Anekdoten, die von Palmas Straßenbahn überliefert sind. Etwa vom Maler Gaspar Terrasa, der im Viertel El Terreno in die ­Straßenbahn stieg - nicht ohne den Weg dorthin mit Zeitungsseiten auszulegen, um seinen weißen Anzug nicht durch den Straßenschmutz zu besudeln. Oder von den penjos, Kindern, die noch schnell am hinteren Ende aufsprangen, als die Straßenbahn schon fuhr, und so den Schaffner austricksten.

Der Anfang vom Ende

Der Spanische Bürgerkrieg (1936-1939) und die damit einhergehende Verarmung der Bevölkerung führte zwar einerseits zur höchsten Passagierzahl überhaupt - knapp zehn Millionen im Jahr 1939 -, leitete aber auch den Niedergang dieses Verkehrsmittels ein. So fehlten während des Zweiten Weltkriegs etwa wichtige Ersatzteile aus Deutschland. Im Jahr 1946 erwarb die Betreibergesellschaft Sociedad General de Tranvías Eléctricas Interurbanas de Palma die ersten Busse. Anfangs dienten sie nur dem Schienenersatzverkehr, ab 1949 aber ersetzten sie systematisch die Straßenbahnen. Dass sich dieser Prozess bis Ende der 50er-Jahre hinzog, lag auch am oftmals miserablen Straßenasphalt, sofern vorhanden.

Im Jahr 1957 fuhren noch knapp 11,7 Millionen Personen mit der Straßenbahn. Zwei Jahre später kam das endgültige Aus: Als Letzte wurden im Januar 1959 die Linien Establiments und La Soledad außer Betrieb genommen. Gründe für diese Entwicklung gab es viele: Das System war veraltet, die Triebwagen schwach, die Waggons zu klein. Hinzu kamen häufige Stromausfälle und Wartungsmängel. Investiert wurde kaum: Auf einigen Strecken fuhren die Waggons so langsam, dass man während der Fahrt zusteigen konnte. Und mancherorts fehlte sogar einer der beiden Schienenstränge. Als hätte das nicht gereicht, trieb der letzte Präsident der Betreibergesellschaft diese mit Missmanagement und

Korruption in den Ruin.

Glaubt man den Leserbriefen von damals, trauerten nur wenige der Straßenbahn nach. „Tausendmal Bravo, gestern konnte man über die Rambla gehen, ohne über die Schienen zu stolpern", war beispielsweise zu lesen, nachdem auch das Gleisbett zurückgebaut war.

Palmas heutiger Verkehrsdezernent Joan Ferrer erklärt sich diese Haltung vor allem damit, dass Busse ein Symbol des Fortschritts sowie Autos ein Statussymbol gewesen seien, nach dem in den Jahren des beginnenden Tourismusbooms viele Menschen strebten. So verschwanden praktisch alle Zeugnisse der Straßenbahn: Die Waggons wurden verkauft oder verschrottet, das Bahndepot für Busse genutzt, die Gleise zum Teil zur Markierung der Haltestellen. Der Name der Betreibergesellschaft verschwand mit ihrer Insolvenz 1970. Es folgte die Busgesellschaft S.A.L.M.A., die 1985 im die heutigen städtischen Verkehrsbetriebe EMT umgewandelt wurde.

Das Erbe der Straßenbahn

Die EMT-Flotte aus derzeit 180 Bussen verkehre heute weitgehend auf dem damaligen Schienennetz, erklärt Ferrer, der keinen Hehl daraus macht, dass das jetzige Jubiläum auch politisch gewählt ist. Natürlich könne man ­argumentieren, dass es auch schon vorher eine Straßenbahn in Palma gab, und der öffentliche Nahverkehr in Palma - zumindest aber die Straßenbahn - damit also schon älter ist. Die Tradition der Maultier-Waggons reicht schließlich zurück ins Jahr 1891, als nach und nach zwölf Waggons und 28 Tiere angeschafft worden waren. Sie gehörten über viele Jahre zum Straßenbild, etwa im Carrer Conqueridor, wo wegen des Anstiegs stets ein zusätzliches Maultier eingespannt werden musste. Das abgerichtete Tier trottete dann bedächtig alleine wieder die Straße hinunter, um auf den nächsten Waggon zu warten.

Doch diese Maultier-Waggons hatten nur wenig mit dem Konzept des heutigen Personennahverkehrs zu tun. Die Esel-Straßenbahn fuhr vor allem feine Leute mit Melone durch die Straßen, „sie schauten eitel auf die Menschen herab, die zu Fuß gingen oder mit dem Rad fuhren", konstatiert der Journalist und Historiker Carlos Garrido. Man hielt Konversation in der Familie oder mit Freunden, und die Straßenbahn hielt spontan an, wenn noch jemand zusteigen wollte.

Erst mit der Elektrifizierung 1916 sei der Grundstein für eine Demokratisierung des Transportwesens gelegt worden, argumentiert Stadtrat Ferrer. Und bei aller Nostalgie und Technikgeschichte ist es deswegen auch ein politisches Signal, wenn zum Jubiläum Fahrradfahrer die frühere Bahnstrecke nachfahren oder mit einer Leihgabe der Sóller-Eisenbahn ein Waggon von damals inszeniert wird.

Vielleicht komme dann der eine oder andere ältere Palma-Bewohner mit seinem Enkel vorbei und erzähle von seinen Erinnerungen, meint der Sozialist, der es als sein politisches Mandat ansieht, die Autos wieder aus Palma zurückzudrängen. Die Pläne für eine neue Straßenbahnlinie, die unter der PP- Vorgängerregierung in der Schublade verschwanden, wird wohl auch er nicht herausholen. Aber erstmals nach sechs Jahren Sparen sollen nun zumindest wieder neue Busse angeschafft werden. „Geld ist nur die eine Sache", so Ferrer, „man muss auch an den öffentlichen Nahverkehr glauben."