Eigentlich waren es nur ein paar Monate zwischen 1932 und 1933, die der Berliner Hugo Cyrill Kulp Boruch in Cala Ratjada verbrachte. Aber die Legenden, die sich um seine Bar Wikiki ranken, hallen bis heute nach. Das Fischerdorf im Nordosten der Insel war Anfang der 30er-Jahre ein Treffpunkt für Auswanderer, Geflüchtete und Gestrandete. Und Jack Bilbo, wie Baruch sich mit Verweis auf seinen Lieblingsautor Jack London und dem baskischen Namen für Bilbao nannte, unterhielt die Community der Ausländer mit Jazz und Ginfizz. An seine Zeit auf der Insel erinnerte er sich später so: „Mallorca schien der Versammlungsort aller Verrückten der Welt zu sein. Und auf Mallorca insbesondere Cala Ratjada. Und in Cala Ratjada, insbesondere die Bar Wikiki."

Weniger bekannt auf der Insel ist, was für ein Leben Bilbo später führte. Als Künstler, der für seinen rohen Stil gefeiert wurde und der sich nicht zu schade war, seine Werke auf eine Stufe mit denen von Picasso zu stellen. Dass man sich nun mit diesem vor Bescheidenheit strotzenden Künstler auseinandersetzen kann, ist dem Berliner Maler und Bilbo-Sammler Daniel Richter zu verdanken. Er würdigte den Tausendsassa 2017 nach einer Ausstellung im Berliner Atelier Liebermann mit einem Katalog.

Die Flucht vor den Nazis nach Mallorca

Als Bilbo 1932 auf der Flucht vor Repressalien der Nazis nach Mallorca kam, war er schon ein bekannter Mann. Als 13-Jähriger war er ausgebüxt, hatte auf einem Schiff angeheuert und war um die Welt gereist. Eine Zeit lang lebte er in den USA, bevor er Anfang der 30er-Jahre nach Europa zurückkam.

Bekannt geworden war er durch die Legende, er sei der Leibwächter des Chicagoer Gangsterbosses Al Capone gewesen. Die Geschichte hatte er selbst erfunden, als er 1931, mit gerade mal 24 Jahren, einen Lebensbericht unter dem Titel „Ein Mensch wird Verbrecher - Aufzeichnungen des Leibgardisten von Al Capone" veröffentlichte. Erst Jahre später, in seinen Memoiren, gestand er den Marketinggag. Das nötige Hintergrundwissen hatte er sich als Polizeireporter in New York erarbeitet. Von solchen Legenden gibt es einige in seiner Biografie. Warum auch eine gute Geschichte durch die Wahrheit kaputt ­machen.

Umbringen konnte er sich nicht

Zur Malerei kam er erst später, im Jahr 1939, nachdem er ins katalanische Sitges gezogen war und im Spanischen Bürgerkrieg aufseiten der internationalen Brigaden gekämpft hatte. Jack Bilbo war frisch geschieden und lebte in London. Er war hochdepressiv, aber umbringen konnte oder wolle er sich nicht. Es passt zu einem Draufgänger wie ihm, dass er zuvor noch nie wirklich gemalt hatte und auch keine Zeit mit einer Ausbildung verschwendete. Und natürlich auch, dass sein Lieblingsmotiv der Hintern von Frauen war. Zur Vermarktung ließ er sich in der Presse als der „malende Gangster" ankündigen und malte sicherheitshalber noch ein Bild von Hitler, der am ­Meeresgrund liegt. Das Bild rahmte er mit Glasrohren ein, in denen lebende Fische ­schwammen.

„Als Künstler hat Bilbo einfach losgelegt, ohne einer Richtung oder Kategorie angehören zu wollen", sagte der Bilbo-Experte Daniel Richter kürzlich dem Magazin „Weltkunst". „Heute weiß man, dass dieser Ansatz unmöglich ist. Weil das Werk eben doch an der Peripherie endet - bei der Outsider-Art."

Die New York Times war voll des Lobes

Die Malerei, wenngleich krude und an einigen Stellen fast kindlich, kam gut an. Die „New York Times" schrieb zur ersten Ausstellung: „Jack Bilbo ist einer der energischsten und eindrucksvollsten Künstler dieses Jahrhunderts." Ein schottischer Sammler war begeistert und kaufte 32 der 36 Bilder auf einen Schlag. Jack Bilbo war wieder in der Gesellschaft angekommen.

Die Kunst war dabei mehr als nur eine Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Der Publizist Cord Riechelmann schreibt im Nachwort des Katalogs: „Kunst war für Bilbo gerade in finsteren Zeiten die einzige Fackel, die einen lichten Weg in die Zukunft wies. Die Zukunft brauche die Kunst und nur aus der Berührung mit der Kunst lasse sich überhaupt noch eine Aussicht auf das Humane ziehen."

Diese Leidenschaft ließ er sich auch nicht nehmen, als er ­Anfang der 40er-Jahre ­zwischenzeitlich auf der Isle of Man als enemy ­alien, immerhin war er ­Deutscher, interniert wurde. Jack Bilbo lieh sich Farben und richtete im Lager eine kleine Galerie ein, in der er auch eingeschmuggelten Alkohol ausschenkte.

Er muss auch mal was Ernstes sagen

1947 war Jack Bilbo in England so bekannt, dass er um eine Weihnachtsansprache gebeten wurde, die im Kino vor dem Hauptfilm lief. Das Video findet man noch im Internet. Jack Bilbo bittet den Reporter, dieses eine Mal etwas Ernstes sagen zu dürfen. Dann spricht er davon, dass jeder Dummkopf eine Kugel in den Körper eines anderen jagen kann. Dass es aber eines klugen Menschen bedürfe, um die Kugel wieder herauszuholen. Er beendet seine Ansprache mit der Bitte, die Menschen mögen sich zusammenschließen, um noch einen Krieg zu vermeiden.

Noch zu Kriegszeiten betrieb Bilbo zwei Galerien in London, wo er Werke namhafter Künstler wie Cézanne, Klee, Renoir und auch Picasso zeigte, wenngleich es sich häufig nur um Reproduktionen handelte. Zudem verlegte er Bücher. Er ging nach New York, später nach Frankreich, bevor er sich Anfang der 60er-Jahre in seiner Berliner Heimat niederließ. Am Olivaer Platz in Wilmersdorf gründete er die Kneipe „Käpt'n Bilbos Hafen-Spelunke", die schon bald zu einem wichtigen Treffpunkt der Künstlerszene avancierte. So kehrte hier auch der US-amerikanische Autor Henry Miller ein, der später das Vorwort zu Bilbos Autobiografie „Rebell aus Leidenschaft" schreiben sollte. Das Buch erschien im Jahr 1963 erschien und sorgte erneut für ein großes Medienecho.

Ein bisschen mehr Rebellion

Die Kunst gab Jack Bilbo trotz der gut gehenden Kneipe nicht auf. Allerdings war er nicht mehr so erfolgreich. Bis zu seinem Tod am 19. Dezember 1967 im Alter von 60 Jahren hatte er noch zwei Ausstellungen in seiner Heimatstadt. Zudem war er noch zum Ehrenbürger von Berlin-Schöneberg ernannt worden.

In den 80er-Jahren kam es vor allem in England in Form von Dissertationen und Ausstellungen eine erste Erinnerungswelle an die Kunst des Jack Bilbo. Insbesondere die Londoner Galerie England & Co. stellte seine Werke immer wieder aus. Jack Bilbo und sein Werk zeigten, dass „ein bisschen mehr Rebellion und Leidenschaft der Welt nicht schaden" können, fasst Daniel Richter in der „Weltkunst" zusammen. „Und der Kunst schon gar nicht."

Im Atelier Liebermann: Daniel Richter / Jack Bilbo, Stiftung Brandenburger Tor, Verlag Walther König, 2017, 160 S., 29,90 Euro.