Es Carnatge, das Gebiet zwischen Cala Gamba und Ca'n Pastilla, ist der einzige noch unverbaute Küstenstreifen Palmas. Schwimmen gehen kann man an diesem felsigen Abschnitt eher nicht, es sei denn als Vierbeiner am gleichnamigen Hundestrand, doch der Panoramablick auf die Bucht von Palma ist eine Wucht. Bislang blieb das knapp 9 Hektar oder etwa 12 Fußball­felder große ­Areal zwischen Meer und Flughafen weitgehend ungenutzt, was sich dank einer Bürgerabstimmung aus dem Jahr 2016 ändern soll. Damals stimmten Palmas Einwohner bei den ­presupuestos participativos dafür, das Gebiet zu säubern und zu schützen. Im vergangenen November, bürokratische Mühlen mahlen langsam, begann die Stadt nun damit, den Bauschutt zu entfernen, an die 1.800 Tonnen sind bisher zusammengekommen. Auch neue Wege sind geplant, die von der Endesa-Zentrale im Carrer Sant Joan de Déu zum Carrer del Déntol in Ca'n Pastilla führen sollen, die ersten Wacholder und Tamarisken sind bereits gepflanzt. 249.000 Euro hat das Rathaus für die erste Phase der Umgestaltung veranschlagt.

Der Name Es Carnatge (Aas­seite) erinnert daran, dass hier bis Ende des 19. Jahrhunderts Tierkadaver ausgeweidet wurden, um aus den Knochen Seife und aus den Häuten Schuhe sowie Kleidung herzustellen. Spaziert man heute durch das Gelände, stößt man immer wieder auf gepflasterte Plattformen und Mauerreste, die von Gebäuden aus dieser Zeit stammen könnten. Archäologisch weitaus interessanter sind allerdings die in den vergangenen Jahren entdeckten Fossilien unterschiedlicher Größe, die aus dem Quartär stammen sollen, einem Zeitabschnitt der Erdgeschichte, der bis 2,6 Millionen Jahre zurückreicht. Wissenschaftler untersuchen anhand dieser Versteinerungen die klimatische und geologische ­Entwicklung Mallorcas. Es Carnatge­ ist auch deswegen ein geschütztes Areal.

Heute ist das Gebiet landschaftlich dreigeteilt: Den Fußgänger- und Radweg entlang des Wassers trennen Zaunpfeiler von einer flachwüchsigen Macchia im Landesinneren mit endemischen Pflanzen wie Wacholder, Zistrosen und Mastixsträuchern. Die Ebene geht in Richtung Flughafen schließlich in ein hügeliges Wäldchen mit wilden Oliven, Kiefern und Steineichen über. Dieser Teil nahe der Autobahn wäre mit seinen zahlreichen Trampel­pfaden und verwunschenen Felsformationen sicherlich der reizvollste - wären da nicht Autolärm, viel Abfall zwischen den Büschen und zwielichtige Spaziergänger, die sich hier zum Stelldichein treffen.

Die Entfernung des Mülls ist ein erster wichtiger Schritt, um das Gelände zukünftig für Jogger, Radfahrer, Hundespaziergänger und Picknickfans attraktiver zu machen. Dem Problem von Müllsündern dürfte ohne einen lückenlosen Zaun aber nur schwer beizukommen sein. Und auch Raubüberfälle sind auf dem trostlosen Streifen nahe der Autobahn nach wie vor ein Thema, behauptet einer, der es wissen muss. Seit zwei Jahren bewohnt Cristian Follon ein halb verfallenes Gebäude am Carrer del Déntol, das früher vom Militär genutzt wurde.

Der selbst ernannte Parkwächter von Es Carnatge kennt jeden, der hier rein- und rausgeht. Der Kubaner hält das bunkerartige Haus besetzt, es gibt weder fließendes Wasser noch Strom. „Dafür eine Terrasse mit Meerblick", witzelt Cristian und deutet auf eine selbst gezimmerte Leiter, die aufs Dach führt. Er lebt von dem, was Besucher ihm vorbeibringen, neben ein paar Euro sind das Brot, Käse, Wasser­flaschen, Kerzen oder auch mal ein ausrangiertes Radio oder ein Topf, in dem er sich Suppe und Reis auf einem kleinen Kohleofen kocht. Früher wohnte er bei einem Freund und hielt sich mit Aushilfsjobs über Wasser. Heute habe er zwar keine Arbeit und kein festes Einkommen, lebe aber glücklich und in Freiheit, behauptet der 52-Jährige. Spaziergänger und Bekannte besuchen den sympathischen Kubaner regelmäßig, nehmen auf einem der wackeligen Campingstühle Platz und erzählen ihm von ihren Sorgen und Nöten. „Im Mai haben wir meinen Geburtstag groß gefeiert", erzählt Cristian. „Auch die Polizei ist vorbeigekommen und wollte wissen, was das hier für ein Menschenauflauf ist."

Seine letzten Worte gehen im Lärm eines landenden Flugzeugs unter. Denn so unbekannt das Biotop ein paar Kilometer von Palmas Zentrum für die meisten noch sein dürfte, hat es doch jeder Resident oder Mallorca-Urlauber schon einmal überflogen. Der Strand­abschnitt ist mit das erste Stückchen Insel, das man aus den vom Meer her anfliegenden Flugzeugen sieht. Nicht ausgeschlossen, dass sich dieses Stück Mallorca in ein paar Jahren in ein touristisch erschlossenes Naherholungsgebiet verwandelt.