Sandra Kuhner hat heute den Job der Dolmetscherin übernommen. Die 35-Jährige erklärt bei der Führung durch die Behindertenwerkstätten dem MZ-Reporter auf Deutsch, welche Tätigkeiten gerade ausgeführt werden. Eine Gruppe experimentiert mit einer Rohmasse aus Papierschnipseln, aus denen kunstvolle Gefäße gefertigt werden sollen. Nebenan werden Kronkorken für einen Vorhang verformt. Im Nebenraum rollt eine Gruppe Behinderter Wachs zu Kugeln, die als Ohrenstöpsel dienen. Am Ende des Flurs werden fleißig Mandeln geschält.

Die Deutsche mit Down-Syndrom findet Spaß an allen Jobs – und ist sichtbar stolz auf die Arbeit, die die 80 Behinderten in den Werkstätten von Aproscom in Manacor ausführen. „Es ist wichtig für alle, das Gefühl zu haben, gebraucht zu werden", sagt Direktor Joan Sastre. Er und die Betreuer wollen sich deswegen nichts von den Sorgen anmerken lassen, die sie in den vergangenen Monaten umtreiben. Sorgen um Gelder, die nicht gezahlt werden, um Rechnungen an Lieferanten, die liegenbleiben, oder um Gehälter, die nur mit Verspätung überwiesen werden können.

Das Problem: Inselrat und Landesregierung sind bereits seit dem vergangenen Jahr mit ihren Zuschüssen in Verzug geraten. Seit dem Frühjahr haben sich die Probleme durch die Haushaltsnotlage zusätzlich verschärft. Auf rund 13 Millionen Euro beziffert Bonifacio Martínez von der Dachvereinigung Feaps die derzeitigen Schulden der öffentlichen Hand auf den Balearen bei den Behinderten-Vereinigungen.

Nach Gesprächen mit dem Inselrat gingen nun endlich Zahlungen ein, wenn auch mit Verspätung: „Wir erhalten jetzt wieder jeden Monat Geld – im November waren es die Zuweisungen für Juli." Bei der Landesregierung dagegen seien Zahlungszusagen bislang nur zum Teil eingehalten worden. Zwei Behindertenorganisationen seien immer noch mit den Gehältern im Verzug. Inzwischen laufe ein Großteil der Zahlungen ohnehin direkt über die Banken – so ließen sich die Gelder zumindest 90 Tage vorstrecken.

Abhilfe soll ein neuer Kredit bringen, der nach mehrwöchigen Verhandlungen in der vergangenen Woche abgeschlossen wurde: Die Banco Santander leiht der balearischen Landesregierung 100 ­Millionen Euro, die für laufende Gehälter und offene Rechnungen eingesetzt werden sollen. Nach Informationen der Zeitung „Última Hora" sind zehn Millionen davon für Behinderten-Einrichtungen bestimmt. Diese hätten Priorität, versicherte der balearische Finanzminister Josep Ignaci Aguiló.

Die Ankündigung kurz vor dem Wahltag am Sonntag stößt unter anderem Erich Kuhner sauer auf, dem Vater von Sandra. Das Thema dürfe nicht wahlpolitisch missbraucht werden. Der Deutsche aus s´Illot hat kürzlich vor dem Regierungssitz Consolat de Mar in Palma demonstriert. Balearen-Premier José Ramón Bauzá sei zwar herausgekommen, aber „das war eine Lachplatte", sagt Kuhner. „Er hat nicht einmal zum Mikrofon gegriffen, niemand hat etwas verstanden."

Sastre von Aproscom zeigt Verständnis für den balearischen Finanzminister – es sei eben einfach kein Geld da. „Das ist keine Frage der politischen Couleur, die Probleme begannen schon vor dem Regierungswechsel." Als im Sommer die Mittel auch in der Einrichtung in Manacor nicht mehr für die Gehälter ausreichten, reagierten die Angestellten solidarisch. „Wir haben intern geklärt, wer das Geld am dringendsten brauchte." Besonders Angestellte mit laufenden Hypothekenverträgen hätten finanziell mit dem Rücken zur Wand gestanden.

Einschnitte in der Versorgung würden die Angehörigen vor große Probleme stellen. Seit dem 16. Lebensjahr sei seine Tochter in dem Zentrum, berichtet Erich Kuhner. Sie ist nicht nur in der Werkstatt aktiv, sondern auch beim Sport. Aufkommen muss die Familie nur für den täglichen Transfer und das Essen. Jeden Montag hilft Sandra zudem am Stand von Aproscom auf dem Markt von Manacor und bedient etwa deutsche Touristen, die sich für die Erzeugnisse der Werkstätten interessieren.

Die Organisation deckt das gesamte Llevant-Gebiet ab, von Inca bis Cala Ratjada. Inklusive Frühbetreuung und Schule werden rund 250 Behinderte betreut. „Wir sind endlich soweit, dass Behinderte ihre in der Verfassung garantierten Rechte wahrnehmen können", sagt Sastre. „Da wollen wir keinen Schritt zurück."

Kopfzerbrechen bereiten den Behinderten-Betreuern nicht nur die Zahlungsmoral der öffentlichen Hand, sondern auch die Wirtschaftskrise an sich. So haben Kommunen und Altersheime Aufträge für Arbeiten wie Gartenpflege oder Strandreinigung gekündigt oder zurückgefahren. Und bei öffentlichen Ausschreibungen für Aufträge habe die Zahl der Bewerber deutlich zugenommen, so der Direktor des Zentrums. Ohnehin kommen nicht alle Aufträge in Frage: Da immer auch Betreuer vor Ort sein müssen, lohnen sich in der Regel nur Jobs, bei denen in größeren Gruppen gearbeitet wird. Dazu gehört zum Beispiel die Autowäsche.

Aproscom baut nun neue Angebote aus. Auf dem Gelände der Organisation in Manacor entsteht ein ökologischer Garten. Die Behinderten nehmen sich zudem Mandel- und Johannesbrotbäume vor, deren Ernte mit nichtbehinderten Arbeitern sich nicht mehr lohnt. Inzwischen gebe es sogar eine Warteliste interessierter Finca-Besitzer, sagt Sastre – als Gegenleistung erhielten sie einen Sack von der Ernte.

Kreativität und Einsatz waren schon immer nötig. Dem Engagement von Angehörigen und freiwilligen Helfern sei zu verdanken, wenn die Betreuung der Behinderten und ihre Integration in die spanische Gesellschaft international so einen guten Ruf hätten, sagt Maribel Morueco von der Organisation Gaspar Hauser, die autistische Kinder betreut. „Die Behindertenarbeit stützt sich auf ein Netz der Zivilgesellschaft." Die staatliche Unterstützung habe sich als unzuverlässig erwiesen.

Im Vordergrund steht das Wohl der Betreuten – auch bei der Frage, inwieweit sie beim Kampf um die ausbleibenden Mittel instrumentalisiert werden dürfen. Es habe eine Debatte gegeben, ob man geistig Behinderte mit zur Demonstration nehmen solle oder dürfe, sagt Sastre. Er halte das wie viele andere für keine gute Idee. Es reiche schon aus, dass die Behinderten eine gewisse Besorgnis bemerkten, die sie allerdings nicht deuten könnten.

Von Beunruhigung ist an diesem Tag in den Werkstätten nichts zu spüren, die Stimmung ist ausgelassen. Stolz schaut Kuhner seiner Tochter zu, wie sie mit ihrem rosa Kittel durch die Einrichtung in Manacor wirbelt, dolmetscht und erklärt. „Ich habe Sandra nichts von den Problemen erzählt", sagt Vater Kuhner. „Sie würde sich nur verrückt machen."

Im E-Paper sowie in der Printausgabe vom 24. November (Nummer 603) lesen Sie außerdem:

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