Die Geschichte des Tourismus auf Mallorca beginnt für viele erst in den 60er-Jahren, als der Massentourismus einsetzt. Dass es zu diesem Zeitpunkt schon über ein halbes Jahrhundert Bestrebungen gab, Urlauber auf die Insel zu bringen, beschreibt der Historiker Ekkehard Schönherr in seiner kürzlich erschienenen Dissertation „Infrastrukturen des Glücks: eine Bild-, Raum- und Infrastrukturgeschichte Mallorcas im 19. und 20. Jahrhundert unter Berücksichtigung des Tourismus“, die er an der Universität Erfurt eingereicht hat. In dem 800 Seiten starken Buch untersucht Schönherr auch die häufig vergessene Industriegeschichte der Insel und die Entwicklung der Infrastruktur, an der sich die wirtschaftliche Entwicklung ablesen lässt. Ein wichtiger Teil der Arbeit ist die Untersuchung von Reiseberichten auswärtiger Besucher, die zum einen das Bild der Insel als Paradies prägen, zum anderen eine wichtige Rolle bei der Außenwahrnehmung Mallorcas als Wirtschaftsstandort spielen. Die Dissertation ist bisher nicht in Buchform erschienen. Die Arbeit kann aber kostenlos online (externer Link

In Ihrer Doktorarbeit räumen Sie mit dem Mythos auf, Mallorca sei durch den Tourismus aus einem Dornröschenschlaf erwacht und sei vorher wirtschaftlich abgeschlagen gewesen. Wie ist es zu diesem Mythos gekommen?

Die Insellage hat sicherlich eine Rolle gespielt. Wenn der moderne Mensch ab dem 19. Jahrhundert auf eine Insel kam, erwartete er, ein Entdecker zu sein. Damit einher ging auch das Bild einer gewissen Rückständigkeit. Das wird besonders beim katalanischen Maler Santiago Rusiñol deutlich, der 1913 den Bericht „L‘illa de la calma“ (Die Insel der Ruhe) veröffentlicht und diese bis heute genutzte Bezeichnung geprägt hat. Rusiñol blendet alle Elemente aus, die auf eine industrielle Zivilisation hindeuten. Autos, Fabriken oder Kinos, also Anzeichen der Moderne, kommen nur am Rande vor. Es gibt auch mehrere Beispiele von Autoren, die mit dem vorgefertigten Bild einer Idylle auf die Insel kommen und diese Erwartung enttäuscht finden.

Dennoch hat sich die Idee der Idylle durchgesetzt.

Die Einheimischen wollten den Reisenden, die nach Mallorca kamen, das Schöne und Wesentliche der Insel zeigen. Und das Wesentliche eines Volkes, das ist bei den Deutschen in der Romantik nicht anders, finden Sie bei den einfachen Leuten, den Bauern. Der Städter zeigt zudem ein Bild, das der Reisende auch gerne sieht. Das ist verständlich: Ich würde einem Besucher auch eher den Thüringer Wald zeigen als die Industriestadt Gera.

Zu den Elementen des Wesentlichen auf Mallorca gehören auch die Folklore und die Traditionen. Inwieweit hat der Umstand, dass Touristen kamen, das Bild der Mallorquiner auf die eigene Kultur geprägt?

Man sollte hier nicht verallgemeinern. Zudem: Die Texte, die wir auswerten, stammen von Städtern. Über das Selbstbild der Bauern ist wenig bekannt. Und die Städter waren gute Romantiker. Die haben ihre Insel mit dem gleichen Idealismus gesehen wie etwa die Deutschen den Schwarzwald.

Ist das der Grund, warum das industrielle Erbe auch bei den Mallorquinern vergessen ist?

Das Bild der Rückständigkeit ist von verschiedenen Gruppen für ihre Zwecke eingesetzt worden. Und es meint auch in verschiedenen Kontexten Unterschiedliches. Manche etwa haben es als Argument genommen, um den wirtschaftlichen Fortschritt voranzutreiben. Eine andere Gruppe, etwa um den Journalisten Miquel dels Sants Oliver, nutzte den Begriff, um die Orientierung der Kultur etwa an andalusischen Traditionen zu kritisieren. Die zentralisierte spanische Kultur sollte als rückständig gebrandmarkt werden. Oder etwa der Ingenieur Eusebio Estada, der für eine Modernisierung Palmas warb, weil die Stadt im Vergleich zu anderen rückständig sei. Dabei hinkte sie nur nordeuropäischen Städten hinterher, im innerspanischen Vergleich war die Lebensqualität hoch.

Sie schreiben, dass bereits Ende des 19. Jahrhunderts in Zeitungen angeregt wurde, den Tourismus zu fördern, das Fremdenverkehrsamt wurde Anfang des 20. Jahrhunderts gegründet. Warum nehmen wir den Tourismus erst ab den 60er-Jahren wahr?

Ich glaube, dass das Jahr 1960 im Bewusstsein ist, weil Maßnahmen der Infrastruktur eine Entwicklung beschleunigt haben, die schon vorhanden war: Der neue Flughafen wurde eröffnet, der Hafen ausgebaut, die Ringstraße um Palma fertiggestellt. In Deutschland wird der Tourismus auf der Insel zudem gerne auf die Playa de Palma beschränkt. Dass es an anderen Orten der Insel bereits vorher Tourismus gab, wird dabei ausgeblendet. Gerade in den 30er-Jahren gab es schon bedeutende Entwicklungen im Fremdenverkehr.

Warum konnten andere Indus­trien nicht mit dem Tourismus mithalten?

Viel von dem Kapital, mit dem der Tourismus aufgebaut wurde, stammt aus anderen Industriezweigen. Ich sehe vor allem zwei wichtige Faktoren: zum einen das Interesse mallorquinischer Unternehmer, auf den Tourismus zu setzen. Zum anderen hat die Franco-Diktatur eine Wirtschaftspolitik betrieben, die alle anderen Industrien hat untergehen lassen. Dadurch wurde die heutige Monokultur etabliert.