Wenn die Bürger nicht ins Rathaus kommen, kommt das Rathaus zu den Bürgern. So war auf dem Weihnachtsmarkt von Sencelles diesmal zwischen den Ständen mit Weihnachtsschmuck oder Traditions­bier auch das Rathaus vertreten, um Ideen für Projekte zu sammeln: Wofür würden Sie Geld aus der Gemeindekasse ausgeben? „Da fällt die Beteiligung höher aus, als wenn wir eine Bürgerversammlung einberufen, zu der nur eine Handvoll Personen kommt", sagt Bürgermeister Joan Carles Verd der MZ.

In Sencelles können die Bürger dieses Jahr über ein Budget von 200.000 Euro entscheiden. Derzeit werden die eingegangenen Vorschläge gesichtet, in einigen Wochen soll dann die Abstimmung beginnen. Vorne dabei: Infrastruktur-Projekte sowie Fiestas und Kultur. „Das sind bürgernahe Themen, die sich für eine Abstimmung eignen", so der Bürgermeister über die inzwischen zweite Runde der presupuestos participativos, also wörtlich des „partizipativen Haushalts".

Verd ist auch Vorsitzender des Verbands der Gemeinden auf den Balearen, in dem derzeit ein gutes Dutzend Kommunen ähnliche Initiativen am Laufen hat. Es sind vor allem große Gemeinden, in deren Rathäusern linke Parteien regieren, neben Palma etwa Calvià und Llucmajor. Haftete gerade Mallorcas Kommunen mitunter der Ruf der Vetternwirtschaft an - persönliche Beziehungen zum Bürgermeister sind Trumpf -, haben sich die Initiativen für mehr Transparenz und Basisdemokratie in den vergangenen Jahren vervielfacht. Wozu auch neue Parteien wie Podemos beigetragen haben dürften, die die politischen Spielregeln neu definieren.

Auch wenn Verd von einem Trend spricht, sind es doch vor allem noch Experimente: Die Bürger können nur über einen geringen Prozentsatz des Haushalts bestimmen, die Beteiligung an der Abstimmung hält sich in Grenzen. In der Großgemeinde Calvià mit ihren mehr als 50.000 Einwohnern etwa waren es vergangenes Jahr gerade einmal 1.629 Stimmen - aber zumindest drei Mal so viel wie bei der ersten Runde 2016. Gleichzeitig ist der Prozess aufwendig: Ideen sammeln, Projekte aussortieren, die nicht in die kommunale Zuständigkeit fallen, auswerten, eine Website zur Abstimmung bereitstellen - und immer wieder debattieren.

Hauptsache, der Anfang ist gemacht, meint der Madrider Soziologe Ernesto Ganuza, Berater bei zahlreichen Projekten in Spanien. Auch wenn die Beteiligung noch gering sei, entstehe ein für alle Bürger offenes Forum. „Wir wechseln von der Einflussnahme einer konkreten Person im Büro des Bürgermeisters zu einer öffentlichen, transparenten und demokratischen Bewegung", so Ganuza im Interview mit der MZ-Schwesterzeitung „Diario de Mallorca". Und das fordere vor allem einen Strukturwandel im Rathaus selbst. „Die bürokratische Maschinerie ist nicht darauf vorbereitet, es müssen viele Widerstände überwunden werden."

Aber auch bei den Bürgern sei ein Umdenken gefordert, betont Bürgermeister Verd - sich beteiligen statt sich beschweren heißt die Devise. Und dafür müssten die Bürger keine Experten für öffentliche Finanzen sein, diese Themen sind und bleiben nach Meinung des FELIB-Vorsitzenden Sache der Rathauspolitiker. In der Gemeinde Calvià war es etwa der Tierschutz, der die Bürger bewegte. 26.000 Euro werden für die Kastration von Straßenkatzen, Abkommen mit Tierschutzvereinigungen oder Verbesserungen im kommunalen Tierheim ausgegeben. Und in Arenal fließen 20.000 Euro aus der Gemeindekasse Llucmajor, um Angebote für Hundehalter zu schaffen und dem Hundekot Herr zu werden.

Daneben geht es um praktische Verbesserungen im Alltag. So ist den Bürgern von Marratxí wichtig, die kommunalen Sportstätten der Nachbargemeinde Palma mitnutzen zu können - dafür soll ein Abkommen geschlossen werden. In der Gemeinde Artà war es ein Projekt zur Erneuerung der örtlichen Leichenhalle in Colònia de Sant Pere, das mit die meisten Stimmen bekam. Und den Bürgern von Algaida ist besonders daran gelegen, dass Spielgerät, Bänke und Laternen im Ort endlich in Schuss gebracht werden.

Das größte Budget hat bislang die Balearen-Hauptstadt Palma zur Abstimmung gestellt - 1,5 Millio­nen Euro standen 2017 für eine Auswahl der 45 vorgeschlagenen Projekte zur Verfügung. Die meisten Stimmen gab es für die Anlage eines Fußgänger- und Radwegs am Sa-Riera-Park im Norden Palmas. Fast alle Siegerprojekte stehen im Zeichen von Nachhaltigkeit und Umweltschutz - von der Anlage eines Stadtwalds über die Einrichtung urbaner Gärten bis hin zur Entmüllung und Wiederaufforstung im Naherholungsgebiet Es Carnatge.

Die meisten Projekte sollen in den kommenden Jahren ausgebaut werden. Dass mit der zunehmenden Bürgerbeteiligung beim Haushalt die im Bürgermeisterbüro vorgebrachten Anliegen weniger werden, glaubt Verd nicht, der persönliche Kontakt sei auch in Zukunft nötig und wünschenswert. „Meine Tür steht den Bürgern weiterhin offen."