Gut 72 Jahre nach Francos Staatsstreich dürfen die Angehörigen der vielen Tausend Opfer, die während der fast 50-jährigen Diktatur ermordet wurden oder verschollen sind, darauf hoffen, dass das Schicksal ihrer Verwandten aufgeklärt wird. Am Montag haben Mitglieder von 22 Opferverbänden dem Starrichter Baltasar Garzón einen Bericht übergeben, der Informationen über mehr als 143.000 Vermisste enthält, die vor allem während des Spanischen Bürgerkrieges und in den ersten Jahren der Franco-Diktatur umgebracht wurden. Daten über knapp 1.500 Personen, die auf den Balearen dem Regime zum Opfer fielen, hat der „Verein zu Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses auf Mallorca" (siehe Artikel rechts) gesammelt und Garzón übergeben.

Die Opfer, die politischen Gegner des Franco-Regimes, sind auch heute noch nicht als solche von Rechts wegen anerkannt. Seit Jahren bemühen sich Familienangehörige, Interessenverbände und die Gewerkschaften Spaniens um die Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der Geschichte ihres Landes. Doch bei den bisherigen Regierungen fanden sie mit ihrem Anliegen kein Gehör. Für viele Spanier war es demütigend, dass die Toten der einen Seite bisher als Helden gefeiert und die der anderen Seite in den Massengräbern verschwiegen wurden.

Erst seit jüngster Zeit wurde auch vonseiten der Regierung ein Prozess der Vergangenheitsbewältigung eingeleitet, der außer der Demontage von Straßenschildern und Denkmälern aber bis jetzt keine bedeutenden Konsequenzen hatte. In dem „Gesetz über die historische Erinnerung" vom Dezember 2007 werden unter anderem die autonomen Regionen verpflichtet, Auskunft über die Zahl aller Opfer zu geben, deren Überreste auf ihrem Boden während des Bürgerkrieges verscharrt wurden. Auch müssen Denkmäler und Gedenksteine aus der Franco-Diktatur beseitigt werden.

Staat und Kirche gefordert

Eine Verfügung des für auffällige Prozesse bekannten Richters Baltasar Garzón brachte das Thema erneut auf die Titelseiten der spanischen Zeitungen. So forderte Garzón alle Regionen Spaniens auf, ihre Archive zu öffnen, Listen mit den Namen aller Opfer des Bürgerkriegs und des Franquismus zu erarbeiten und Nachforschungen zu deren Identität und den Umständen ihres Todes anzustellen. Unter den Adressaten befanden sich sowohl staatliche als auch kirchliche Institutionen.

Dass sich Garzón neben den Generalarchiven des Landes auch an die Bischofskonferenz und alle kirchlichen Gemeinden wandte, hat damit zu tun, dass in den Archiven mancher Pfarreien auch die Namen von Hingerichteten aufbewahrt werden.

Während diese Nachricht bei vielen Angehörigen und deren Vertretern die Hoffnung weckte, bald Gewissheit über den Verbleib ihrer Verstorbenen zu erlangen, fand die Initiative bei den Konservativen des Landes keine Unterstützung. Man wirft Garzón vor, alte Wunden der Geschichte wieder aufzureißen und damit die Einheit Spaniens zu gefährden. Dabei sind diese Wunden auch heute noch nicht verheilt. Gerade in kleinen Ortschaften wissen die Hinterbliebenen der republikanischen Opfer sehr gut, wer für den Tod ihrer Angehörigen verantwortlich ist.

Die Initiative Garzóns wird der an sich schon überlasteten spanischen Justiz noch mehr Arbeit bereiten. Der Vorsitzende der spanischen Bischofskonferenz, der Madrider Kardinal Rouco, lehnt jede Zusammenarbeit mit dem Richter ab. Die Bischofskonferenz habe da keine Kompetenzen, sagte er. Der Richter könne sich an die einzelnen Pfarreien oder Diözesen wenden.

Die Angehörigen der Ermordeten, die spanienweit in lokalen Opferverbänden organisiert sind, haben Garzón aufgefordert, die Dokumentation über die erfolgten Exekutionen einzuklagen. Die Angehörigen wollen wissen, wo die Leichen ihrer Väter, ihrer Männer, ihrer Mütter, Frauen, Söhne und Töchter geblieben sind und die Ehre der zu Unrecht Verurteilten und Hingerichteten wieder herstellen. Auch über das Schicksal der sogenannten Verschwundenen sollen die Behörden Auskunft geben. Die Opferverbände haben mehrfach betont, dass es ihnen nicht um Rache, sondern nur um die Wahrheit gehe.

Der Verband zur Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses war im Jahr 2000 von dem Journalisten Emilio Silva ins Leben gerufen worden. Mit Hilfe einiger Freunde hatte er seinen Großvater ausgegraben, den Franco-Anhänger 1936 in einem Massengrab am Rande einer Landstraße in der Provinz León verscharrt hatten. Die Familie von Emilio Silva wusste immer, wo sich die Reste des Großvaters befanden, doch während der Diktatur traute sich niemand, darüber zu sprechen.

Streit um García Lorca

Die Frage, ob man die Ermordeten wieder ausgraben oder zumindest die Lage der Gräber feststellen soll, wird derzeit besonders am Fall eines der bekanntesten Spanier des 20. Jahrhunderts, des Dichters Federico García Lorca, diskutiert. García Lorca war im August 1936 von zivilen Anhängern der Rebellion Francos und einem aufständischen Offizier aus seinem Haus geholt, in das Städtchen Viznar bei Granada gebracht und zusammen mit einem liberalen Volksschullehrer und zwei gewerkschaftlich tätigen Stierkämpfern erschossen worden. Die Überreste der vier Ermordeten befinden sich in einem gemeinsamen Grab. In der Nähe wurde nach Francos Tod ein Ehrenhain für García Lorca und die übrigen 4.000 in Granada aus politischen Gründen Ermordeten angelegt.

Die Neffen und Nichten García Lorcas wollten zunächst die Gebeine nicht ausgraben lassen, haben aber schließlich eingewilligt, weil die Nachkommen der anderen drei mit dem Dichter Ermordeten die Überreste auf einem Friedhof begraben wollen. Nun stehen Archäologen und Geophysiker bereit, um mit den Ausgrabungen zu beginnen. Sie warten nur auf das Signal von Richter Garzón. In der Druckausgabe lesen Sie außerdem:

Juristischer Streitfall: Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Übersicht: Wo auf Mallorca nach dem Franco-Putsch der Terror herrschte

Auf Mallorca ist erst die Hälfte der Opfer identifiziert

"Alles was rot ist, wird erschossen": Auf Mallorca verfolgten Truppen des italienischen Faschisten die Republikaner