Es ist bereits 9.30 Uhr, aber die beiden Höhlentaucher sind immer noch nicht am vereinbarten Treffpunkt in Cala Pi. „Wir warten noch eine Viertelstunde, dann gehen wir ohne sie rein", sagt Guiem Mulet (46) gelassen. Falls sie nicht mehr kommen, müsse man ihnen auch nicht beim Transport ihrer schweren Ausrüstung helfen. „Das ist eine echte Schlepperei", scherzt der Präsident des balearischen Speläologenverbands Federació Balear d´Espeleologia, in dem etwa 200 Hobbyforscher aus drei lokalen Gruppen zusammengeschlossen sind. Dann werde an diesem Samstag eben nicht geforscht. „Das hat den Vorteil, dass wir mehr Zeit haben, uns die Cova des Pas de Vallgornera in aller Ruhe anzusehen."

Zumindest einen Bruchteil davon. Denn die Höhle gehört mit ihren bislang erschlossenen 72 Kilometern zu den größten in Spanien. Damit ist sie mehr als sieben Mal größer als das Hölloch, die mit rund 10 Kilometern größte Höhle Deutschlands. „Und sie ist eine der schönsten Höhlen überhaupt." Davon ist nicht nur Mulet überzeugt. Von den über 4.000 auf Mallorca katalogisierten Höhlen gehört sie zu den wenigen, die in puncto Schönheit mit V ausgewiesen sind. Eine bessere Note gibt es bei den Speläologen nicht.

Es braucht nicht geschleppt werden, von den Tauchern fehlt jede Spur. Neoprenanzug anziehen, Helm aufsetzen, Stirnlampe kontrollieren. Der Höhleneingang befindet sich 100 Meter vom Treffpunkt entfernt. Auf dem Gelände eines inzwischen nicht mehr in Betrieb befindlichen Hotelkomplexes ist er 1968 beim Bau des Abwassersystems entdeckt worden. In einer Art Brunnenhäuschen, das mit einer massiven Stahltür verschlossen ist, wird der einzige bekannte Zugang zur Cova des Pas de Vallgornera vor unbefugtem Betreten bewahrt. Ohne Sondergenehmigung darf niemand hinein. Die Vallgornera-Höhle steht seit der Jahrtausendwende unter besonderem Schutz.

Ein runder, etwa acht Meter tie­fer Schacht, in dem eine schmale Eisenleiter verankert ist, führt senkrecht in die große Eingangsgrotte hinab. Tausende Tropfsteinforma­tionen empfangen die Besucher. Und tiefe Dunkelheit. Die ersten Blitze zucken durch das Schwarz. „Spar deine Batterien, du kannst weiter drinnen noch viel bessere Fotos machen", sagt Mulet zu dem schon jetzt völlig faszinierten Reporter.

Eine an zwei Pfosten befestigte Karte zeigt die bisher entdeckten Wege an. In verschiedenen Farben sind darauf die drei unterschiedlichen und miteinander verbundenen Ebenen der Karsthöhle markiert. Ein trockenes, etwa 20 Meter über dem Meer verlaufendes Höhlensystem, eine mit Seen und Kanälen durchzogene Ebene auf Meeresniveau und eine unter dem Meeresspiegel liegende Unterwasser­höhlenwelt. „Uns interessiert natürlich viel mehr das, was dort noch nicht verzeichnet ist." Aber die Erforschung der Höhle sei mühsam, zeitaufwendig und auch nicht ganz billig. 1992 waren erst zwei Kilometer der Höhle bekannt. Und eine Unterstützung des Speläologenverbands seitens der Balearen-Regierung gebe es nicht. „Wir verhandeln immer noch."

Nach einigem Auf und Ab ist der Einstieg in das Kanalsystem erreicht. Luft und Wasser haben 19 Grad. „Bitte vorsichtig schwimmen, damit nichts beschädigt wird." Der Süßwasseranteil überwiegt. Obwohl das Meer nur einen Kilometer entfernt ist, schmeckt das Wasser kaum nach Salz. „Es muss vom Meer aus einen Zugang geben, aber wir haben ihn bis heute noch nicht entdeckt."

Schon nach der zweiten Biegung hängen abertausende dünne Stalaktiten wie Spaghetti bis fast zur Wasseroberfläche herab. An ihren Enden befinden sich dicke Tropfen, die im Schein der Stirnlampen fast wie Tränen wirken. Die Beine haben keine Grundberührung mehr, und die Köpfe suchen sich einen Weg durch den natürlichen Zaun aus Tropfsteinen.

Die Galerien, die Dutzende Säle verbinden, winden sich immer mehr durch die Höhle. Schon lange hat der Reporter jede Orientierung verloren. Auch Mulet räumt ein, dass er sich hin und wieder in dem Labyrinth verliert. Und das, obwohl er seit über zehn Jahren in der Höhle aktiv ist und sich schon seit seinem 14. Lebensjahr durch Höhlensysteme wühlt. Oft im wortwörtlichsten Sinn. „Wenn ich irgendwo ein Loch sehe, muss ich da einfach rein", beschreibt Mulet seine Leidenschaft. Das sei eine ansteckende Krankheit, von der auch seine Familie schon lange befallen worden sei.

Die Tropfsteinformationen nehmen immer bizarrere Formen an. Manche ähneln Kraken, deren Arme sich schon seit Hunderttausenden von Jahren ihren Weg zu suchen scheinen. Versteinerte Seeigel und andere Fossilien kleben an der gegenüberliegenden Wand. Unter Wasser funkeln orangefarbene, abgebrochene Steine. An einer flacheren Stelle hebt Mulet einen der etwa 30 Zentimeter langen, phallusartigen Objekte auf. „Die nennen wir Möhren, wegen ihrer Form und Farbe."

Jetzt wird es verdammt eng. Mit den Füßen voraus sucht sich der Körper einen Durchlass und schlängelt sich – gelenkiger als erwartet – zu einer neuen Grotte hindurch. Dort ist ein Stück Zollstock angebracht, das als Pegel dient. Die Wasserhöhe in der Höhle kann um bis zu 40 Zentimeter variieren. Beim Höchstand ist es dann schwierig, in die nächste Galerie zu gelangen. Schon bei Niedrigwasser muss der Kopf halb untergetaucht werden, um keinen der filigranen Stalaktiten zu beschädigen.

Rund 400 Meter müssen bis zur ersten trockenen Stelle geschwommen werden. Dort wird ein Päuschen eingelegt. Picknick in der Unterwelt.

Auf allen Vieren geht es durch eine Art Tunnel weiter, dann wird es wieder nass. Ein gespanntes, mit Pfeilen markiertes Seil verläuft unter den Spaghetti. „Das ist die Linie 500. Sollten wir uns tatsächlich verlaufen, müssen wir nur diese wiederfinden. Dann ist alles einfach."

Bäuchlings geht es zum nächsten See. Der Gummianzug schützt nicht nur vor den Temperaturen, sondern auch vor Schürfwunden.

Aus den Wänden wuchern feinste Tropfsteine. So, als wären sie helles Gras. „Hier haben wir schon einmal winzige Aale gefunden." Die zwei Zentimeter langen Tiere seien in Gefäße gesteckt und den Biologen der Balearen-Universität übergeben worden. Lebende Tiere habe man bislang noch nicht viele gesehen. Aber immer wieder würden Knochen und Skelettteile entdeckt. Einer der bedeutendsten Funde liegt vier Jahre zurück: die Kieferknochen eines Myotragus, einer prähistorischen Mischung aus Ziege und Schaf. Mulet sucht eine Erklärung: Da es vermutlich keine Möglichkeit für das Tier gegeben habe, in die Höhle zu gelangen, sei es sehr wahrscheinlich, dass die „Schafsziege" von einem großen Raubvogel geschlagen wurde und die Knochenreste durch eine Felsspalte in das Höhlensystem gelangten.

Mulet leuchtet auf ein besonders filigranes Gebilde, das, noch zerbrechlicher als Eisblumen, Kristall für Kristall übereinander aufschichtet. So vergehen Stunden.

Fast unbemerkt ist der Wasserpegel gestiegen. Bis zum größten Saal der Höhle, der in etwa so groß ist wie zwei Fußballfelder, kann heute nicht vorgedrungen werden. Dort haben die mallorquinischen Forscher ihr Basisquartier aufgeschlagen, in dem sie sonst auch übernachten, um sich Wege und Zeit zu sparen. „Das schauen wir uns ein anderes Mal an", tröstet Mulet den Reporter, auf den der Forscherfunke übergesprungen ist. „Dann kannst du ja vielleicht auch den Tauchern ein paar Kilo abnehmen. Falls sie kommen."

In der Printausgabe lesen Sie außerdem

- Wer Höhlen erforschen will, muss reingehen

- Tropfende Steine für jedermann