Sind die Bewohner der Balearen besonders verantwortungslos beim Sex? Haben sie etwas gegen Kondome? Zum Einsatz kommen sie jedenfalls zu selten. Bei Abtreibungen und HIV-Infektionen liegen die Inseln im spanienweiten Vergleich weit vorne. Die Zahl der Abtreibungen proportional zur weiblichen Bevölkerung ist gleich hinter der Region Madrid am zweithöchsten. Zudem stieg die Zahl in den vergangenen Jahren laufend. Im Jahr 2007 kam es auf den Balearen zu 3.494 Schwangerschaftsabbrüchen. Bei Aids sind die Balearen mit 50,5 Fällen pro 1.000 Bürger sogar Spitzenreiter unter den spanischen Regionen.

Bei der Ursachenforschung spielen die Besonderheiten der balearischen Gesellschaft eine große Rolle. Zwar sind die Einflüsse komplex, doch der Tourismus und seine Folgen wird von Experten als maßgeblicher Grund für den offenbar zu lockeren Umgang mit Verhütung herangezogen. „Der Tourismus, der hier immer noch am meisten verkauft wird, ist sol y playa. Da gehört dann auch fiesta y sexo dazu. Die Jugendlichen auf Mallorca, die mit 15, 16 die Schule abbrechen, weil sie einfaches Geld als Kellner verdienen können, kommen dann mit dieser Kultur in Berührung", sagt der auf Sexualität spezialisierte Psychologe Sergi Pallerols (siehe rechts). Diese Jugendlichen könnten dann auch nicht mehr in der Schule mit Sexualerziehung erreicht werden. „Der Tourismus hat uns zwar offener gemacht, aber gleichzeitig sind die Balearen extrem einseitig auf Dienstleistung ausgerichtet. Das prägt", meint auch Lila Thomas, die Leiterin des balearischen Fraueninstituts. Sie weist auch auf gehäuften sexuellen Missbrauch in Urlaubsorten wie Magaluf hin. „Da gab es in letzter Zeit einige Fälle. Wenn das Freizeitverhalten von Alkohol und Drogen bestimmt ist, werden auch andere Grenzen übertreten."

Auch die hohe Zahl der ausländischen Bevölkerung von knapp 20 Prozent auf den Balearen wird zur Erklärung der Abtreibungsstatistik herangezogen. Die Mentalität von Arbeitsimmigranten aus Afrika und Lateinamerika mache sich bemerkbar. Verhütungsmittel würden nicht als wichtig angesehen oder es fehle einfach am Geld dafür. „Wer knapp bei Kasse ist und Essen braucht, entscheidet sich vermutlich gegen Pille oder Präservative", sagt Teresa Pou, die Gleichstellungsbeauftragte im balearischen Gesundheitsministerium.

Darüber hinaus wirken die Vorgaben der lange Zeit sehr einflussreichen katholischen Kirche und die rigide Moral der Franco-Zeit in Spanien nach. Offene Gespräche über Sexualität würden so verhindert. „Die Familien in Spanien sind sehr weit voneinander entfernt, wenn es um den Umgang mit Sexualität geht. Die einen sind sehr liberal und offen, die anderen der traditionellen katholischen Moral verhaftet. Und dann gibt es noch die dazwischen, die zwar gerne modern sein möchten, sich aber schwer damit tun, weil sie in ihrer Jugend etwas anderes vermittelt bekommen haben", sagt Pou. Als sie selber ein Kind gewesen sei, hätten ihr die Eltern bei Kussszenen im Fernsehen die Augen zugehalten.

Dem Gesundheitsministerium ist das Problem bewusst. „Was die Sexualerziehung angeht, liegen wir zurück. Da sind andere spanische Regionen viel weiter. Wir haben bei diesem Thema Nachholbedarf", sagt Teresa Pou. Doch wie und wo den Umgang mit Sexualität lernen, wenn das Thema nicht auf dem Pflicht-Lehrplan der Schulen steht und auch vom staatlichen Gesundheitspersonal kaum thematisiert wird? „Wünschenswert wäre, dass Sexualität und Liebesbeziehungen vorgeschriebener Bestandteil im Fach Bürgerkunde wird. Dies müsste aber von der Zentralregierung in Madrid angeordnet werden."

Derzeit entscheiden die Schulen in Eigenregie, ob und wie ­Sexualkunde unterrichtet wird. Von Gesundheits- und Jugendministerium werden allerdings spezielle Veranstaltungen angeboten. So veranstaltet der Beratungsservice Infosex Workshops in Schulen, und mehrere Gesundheitszentren haben eine Jugendberatung eingerichtet. Seit vier Jahren gehen Krankenschwestern und Ärzte in die Schulen, um mit Jugendlichen über intime Beziehungen zu sprechen, sowie Drogenkonsum und Ernährungsfragen zu erörtern. Im Anschluss daran kann ein Einzeltermin vereinbart werden. Im vergangenen Schuljahr wurden damit 1.126 Jugendliche in 23 Schulen erreicht. „In vier bis fünf Jahren wollen wir das Programm auf alle Schulen ausgeweitet haben", sagt Pou.

Außerdem wird im Ministerium an einem Verhütungsratgeber gearbeitet, der künftig in mehreren Sprachen in den Gesundheitszentren und weiteren Einrichtungen ausliegen soll. „Zum Beispiel auch bei Organisationen von Ausländergruppen." Auch sollen Ärzte und Krankenschwestern für das Thema mit Schulungen sensibilisiert werden. Eine solche Kampagne sei notwendig, weil das Gesundheitspersonal oft nicht wüsste, wie das Thema Sexualität mit Patienten angesprochen werden kann.