28. Oktober 2009, Hotel Valparaíso, Palma

Ein roter Teppich ist über den Treppenaufgang gelegt, in der Eingangshalle verteilen zwei Hostessen knallrote Dossiers, die Gäste wirken bemüht charismatisch: Menschen vom Film. Exotisch wirkt unter ihnen der balearische Tourismusminister Miquel Nadal, ein Macher vom alten Schlag, gezwängt in dunklen Nadelstreif. Gemeinsam mit zwei Vertretern der Festivalinitiative kündigt er vom Podium des Veranstaltungssaals „Mallorca“ eine neue Zeitrechnung für die Insel an: vor April 2011 und nachher. Genau dann, strategisch platziert zwischen Cannes und Berlin, aber auch mitten in der müden Nebensaison, soll auf Mallorca - und diesmal im Ernst - zum ersten Mal der rote Teppich ausgerollt werden für das „Mallorca International Film Festival“, kurz MAIFF. Geplant ist von Beginn an ein Filmfestival der A-Klasse. Das ist die höchste Kategorie, hier sind Festivals wie Berlin, Venedig, Rom, Locarno und San Sebastián angesiedelt.

Gemessen an der Tragweite der Verlautbarung fällt das Echo in den Medien lauwarm aus. Dabei sind die Absichten spektakulär. In nicht weniger als zehn Kategorien sollen Filme um die Gunst des Publikums und der Kritik buhlen, in der Königskategorie „Neue Visionen“ soll es um einen Preis gehen, der den in deutschen Ohren bieder klingenden Namen „Irene“ trägt. Die Gegenwart und Zukunft der Filmbranche soll auf Mallorca diskutiert und verhandelt werden, nicht zu vergessen: Stars, Glamour und rauschende Partys, und das alles von den Medien in die Welt getragen. Für jede Ausgabe des Festivals soll ein Gesamtbudget von sieben Millionen Euro zur Verfügung stehen.

Initiator David Carreras (47) ist Katalane und Filmregisseur und lebt auf Mallorca. Vor einem Jahr begann er, sich in Amtsstuben und Vorstandsbüros den Mund fusslig zu reden darüber, wie wichtig und nützlich ein großes Filmfestival für die Insel, die Insulaner, die Besucher, die Unternehmen, die Politiker und die Kinos wäre. Eine Win-win-win-win-Situation. Aber es gibt „Abers“. Carreras selbst beschrieb bei der Präsentation, wie alle, die er auf das Projekt ansprach, gleich reagierten: spontane Begeisterung, dann eine nachdenkliche Pause, schließlich der Einwurf: „Auf Mallorca?“

Carreras kann mehrere hundert objektive Gründe dafür nennen, warum die Insel der ideale Standort für ein großes Filmfestival ist. Dabei ist die Skepsis der gelernten Insulaner nicht angeboren, sondern anerzogen: Festivals auf Mallorca hatten es immer schwer. Um zu verstehen, mit welchen Widernissen sich Carreras anlegt, muss ein Blick in die Vergangenheit geworfen werden.

3. November 2004, Palau March, Palma

Direktor Rafael García Loza eröffnet die siebte Ausgabe des „Festival Internacional de Cine Illes Balears“, auch „Europfilm“ genannt. Eine Zeitung titelt am nächsten Tag: „Das Filmfestival etabliert sich“. Noch ahnt niemand, dass diese siebte Ausgabe auch die letzte sein wird. García Loza, der heute im Vorstand der Fernsehakademie „AcademiaTV“ in Madrid sitzt und u.a. Vizedirektor des Dokumentarfilmfestivals von León ist, staunt noch heute, wie das Projekt auf Mallorca quasi von heute auf morgen von den Institutionen im Stich gelassen wurde.

Die Geschichte von „Europfilm“ hatte 1997 auf der Nachbarinsel Menorca begonnen. Drei Jahre lang wurden in der Hauptstadt Maó spanische, französische und englische Filme gezeigt, ein Schwerpunkt des Festivals lautete Umweltschutz. Die Perspektiven änderten sich 1999, als die Sozia­listin Joana Barceló im Inselrat von Menorca an die Macht kam. „Die öffentlichen Hilfen wurden von einem Jahr aufs andere drastisch zusammengestrichen“, erinnert sich García Loza. Also wechselte er nach Mallorca über, wo das Filmfestival im Jahr 2000 Anker warf.

So richtig abgehoben hat die Veranstaltung jedoch nie, das Budget überstieg in keinem Moment die 100.000-Euro-Marke, ist daher auch nur bedingt vergleichbar mit dem Großprojekt MAIFF. Trotzdem erlebte das Festival glänzende Momente, etwa mit der Spanien-Premiere des Science-Fiction-Films „Das fünfte Element“ von Luc Besson. Auch deutsches Kino wurde gefeiert: „Good Bye, Lenin“ wurde ebenfalls in spanischer Premiere gezeigt, und im Jahr 2002 setzte sich beim Wettbewerb des Festivals der deutsche Film „Crazy“ von Hans-Christian Schmid gegen die internationale Konkurrenz durch. Die Preise waren übrigens namenlos. García Loza: „Wir wollten mit der Benennung warten, bis das Festival etabliert war und über ein größeres Budget verfügte.“

Dazu sollte es nicht kommen. Das Aus war unerwartet: eisiges Schweigen der Behörden, als der Direktor über die öffentlichen Hilfen für die achte Ausgabe des Festivals verhandeln wollte. „Ich bekam nicht einmal ein Nein zu hören, das Festival existierte für die Politiker nicht mehr.“

Der in Salamanca geborene, heute 71-jährige Festivalprofi hatte freilich schon vorher die Eigenheiten der Inselpolitik und mancher Inselpolitiker am eigenen Leib erfahren. Die damalige Inselratspräsidentin Maria Antònia Munar hätte ihn aufs Freundlichste empfangen, „aber vom Consell erhielten wir keinen Cent“. Das hinderte die First Lady der balearischen Politszene nicht, überraschend bei einer Gala aufzutauchen und vor den Augen der verdutzten Organisatoren das Programm umzuschmeißen und der katalanischen Regisseurin Silvia Munt einen Preis zu überreichen. Wenn Munar Rampenlicht braucht, nimmt sie es.

Worin sieht García Loza die größte Schwierigkeit für ein Festival, wie es David Carreras und sein Team anleiern wollen? „In der Unbeständigkeit der Politiker. Sobald die Farben einer Regierung wechseln, hängt alles in der Luft. Aber wenn Festivals wie die von Berlin oder Cannes so erfolgreich sind und diesen Städten so viel internationale Aufmerksamkeit bescheren, dann deshalb, weil die Institutionen unabhängig von der Partei, die gerade an der Macht ist, bedingungslos und langfristig hinter diesen Veranstaltungen stehen.“ Das beste Beispiel sei San Sebastián. Das Festival im Baskenland habe schon unter Franco, dann während der Demokratisierung, und später unter González, Aznar und Zapatero „konstant den Rückhalt der Politik genossen“.

García Loza erinnert daran, „dass die Politiker der Balearen schon mehr als ein Festival versenkt haben“. Tatsächlich hat es, wie der Schauspieler Pep Tosar bei der Präsentation im Valparaíso erwähnte, auf Mallorca ein Jazzfestival mit internationaler Ausstrahlung gegeben - „Ella Fitzgerald hat hier eines ihrer letzten Konzerte gegeben“ - und in den 80er Jahren auch ein europäisches Theaterfestival. Sie alle sind politischen Machtwechseln zum Opfer gefallen.

Doch die Wankelmütigkeit der Institutionen sei nichts Ungewöhnliches, sagt García Loza. „In Spanien gibt es um die 200 Filmfestivals, und jedes Jahr verschwinden davon einige und werden andere aus der Taufe gehoben.“ Konstant sei nur die Unbeständigkeit der Politik. Dabei sei der Nutzen solcher Veranstaltungen für eine Stadt oder eine Region unbestreitbar. „Die Berlinale ist heute bestimmt das wichtigste Kulturereignis in Deutschland.“

Dem katalanischen Regisseur wünscht García Loza viel Glück. „Vor allem mit den Politikern wird er es wirklich brauchen.“

30. Oktober 2009, Costa de Sant ­Llorenç Nr. 1, Sóller

David Carreras hat sein Hauptquartier am Rand von Sóller aufgeschlagen, in einem schnörkellosen Altbau mit hohen Räumen und spärlichem Mobiliar. Im Garten stehen Orangenbäume, an die Terrasse schließt sich ein Pool an, der Blick geht über die „Skyline“ von Sóller auf das dahinter liegende Bergpanorama. Dorthin wandern die Augen des Regisseurs, wenn er vom Festivalstress Pause macht und draußen eine Zigarette raucht. „Wenn man schon viel arbeitet, sollte man das wenigstens an einem angenehmen Ort tun.“

Carreras hat in diesem Jahr seinen zweiten Spielfilm in die Kinos gebracht, „Flores negras“ (Schwarze Blumen), ein in spanisch-deutsch-österreichischer Koproduktion gedrehter Agententhriller, der im September in die spanischen Kinos kam und trotz relativ prominenter Besetzung (u.a. Maximilian Schell) kein Aufsehen erregte. Carreras hat jahrelang in Deutschland gewohnt, den Mauerfall erlebte er in Berlin live mit. Jetzt lebt er in Sóller und will von hier aus die spanische Filmfestival-Landschaft umkrempeln: San Sebastián ist derzeit das einzige A-Festival des Landes.

Während in einem Arbeitsraum vier hübsche junge Damen - man ist schließlich beim Film -, vor Laptops sitzen, stellt er sich zum x-ten Mal in diesen Tagen einem Interview, das um die ewig selbe Frage kreist: Glaubt er im Ernst, dass man mitten in der Krise und ausgerechnet auf Mallorca ein richtig großes Filmfestival machen kann?

Carreras wirkt gehetzt, irgendwie erschöpft, manchmal gereizt, dann aber auch wieder grimmig positiv. „Bei einer Krise hat man zwei Möglichkeiten: Man schließt sich zu Hause ein und jammert, oder man geht raus und stellt etwas auf die Beine.“ Nach Kräften bemüht er sich, dem Eindruck entgegenzuwirken, er sei irgendwie naiv oder würde nicht in vollem Umfang begreifen, was er sich da vorgenommen hat. „Gerade in einem Jahr, in dem alle öffentlichen Institutionen sparen müssen, war es natürlich extrem schwierig, die Verantwortlichen von der Sinnhaftigkeit und Machbarkeit eines Filmfestivals dieser Dimensionen zu überzeugen.“

Doch er hat es geschafft und sagt jetzt: Die Zeit der Skepsis ist vorbei, Herumeiern gilt nicht mehr. Wie er es in den letzten Tagen, oder eigentlich in den letzten 365 Tagen, zahllose Male wiederholt hat, listet er die Argumente auf: Er möchte das Kino „zurück ins Paradies holen“, das für ihn Mallorca darstellt. Er will einem traditionell schwachen Moment der Tourismussaison, nämlich April, einen entscheidenden Impuls verleihen. Und er will etwas erreichen, worauf schon die Initiative „Europäische Kulturhauptstadt 2016“ abzielt: Wer an Mallorca denkt, dem sollen nicht automatisch Strand und Ballermann einfallen, sondern auch Kultur und Glamour.

Darüber, wer ihm in welcher Form die angesprochenen sieben Millio­nen Euro zur Verfügung stellt, geht er nicht ins Detail. Nur so viel: 70 Prozent des Geldes macht die Privatwirtschaft locker, 30 Prozent die Behörden. Wobei die öffentlichen Mittel auch in Naturalien bestehen können, z.B. indem etwa der Inselrat das Teatre Principal zur Verfügung stellt. Doch mit der überwiegend privaten Finanzierung des Festivals sieht sich Carreras in einer Position der Stärke, fühlt sich weniger abhängig von den wechselnden Winden der Politik.

„Palma ist die ideale Stadt für ein solches Festival“, ist Carreras überzeugt. „Es ist eine Stadt der großartigen Kulissen, der prächtigen Gebäude und der kurzen Distanzen. Hier kann echte Festival-atmosphäre entstehen.“

3. November 2009, Telefoninterview mit Moritz de Hadeln

Der vor 69 Jahren in England geborene Moritz de Hadeln hat in seinem Leben viele Festivals organisiert, definitiv einen Namen machte er sich als Direktor der Berliner Filmfestspiele von 1980 bis 2001, heute hat er seine eigene Agentur für Festival- und Kultur-event-Beratung. Wenn jemand über die Szene der europäischen Filmfestivals Bescheid weiß, dann er. Die Erfolgschancen eines Festivals, sagt de Hadeln, hängen von den folgenden Faktoren ab: Budget, Zeit, Kontakte, Presse, Veranstaltungs-­Infrastruktur.

Faktor Geld: Die großen europäischen A-Festivals hätten Budgets in zweistelliger Millionenhöhe, weit darunter dürfte ein Neuling nicht agieren. Das MAIFF-Budget von sieben Millionen dürfte diese Hürde knapp überwinden.

Faktor Zeit: Bis April 2011 sei genügend Zeit, um die Werbetrommel zu rühren. Carreras hat am Dienstag (10.11.) auf der Tourismusmesse World Travel Market in London damit begonnen, das MAIFF zu präsentieren und wird neben Messen auch andere Festivals besuchen, u.a. ist ein Auftritt bei der Berlinale geplant und ein Besuch beim Sundance-Festival.

Kontakte: „Ein entscheidender Punkt“, sagt de Hadeln, „denn Sie müssen die großen Produzenten und Verleiher davon überzeugen, ihre Filme auf Ihrem Festival zu zeigen und nicht anderswo. Dazu benötigen Sie beste Beziehungen.“ Diesen Part in der Besetzung, meint Carreras, deckt vor allem seine Mitstreiterin Elena Manrique ab. „Sie war zwölf Jahre lang beim Fernsehsender Canal Plus und acht Jahre lang für die Filmprogrammierung bei Tele 5 verantwortlich“, sagt der Festivaldirektor in spe. „Und sie war Produzentin von Filmen wie ‚Pans Labyrinth‘ und ‚Das Waisenhaus‘. Sie hat beste Kontakte.“

Presse: „Sie müssen die Journalisten der Fachpublikaktionen davon überzeugen, dass es die Mühe wert ist, die Reise nach Palma auf sich zu nehmen“, sagt de Hadeln. „Und das erreichen Sie am besten mit Premieren bedeutender Filme und der Anwesenheit großer Stars.“ Diese Anforderung, gesteht Carreras zu, ist nicht aus dem Stand heraus zu erfüllen. Ein Festival muss sich erst einen Namen machen. Die Strategie des MAIFF-Organisators: Stars. Denn um die herzukriegen, braucht man „nur“ Geld. „San Sebastián hat erst Schlagzeilen gemacht, als Brad Pitt aufgetaucht ist“, sagt Carreras. „Die Premieren sehe ich da eher zweitrangig.“ Zumal er mit dem Weltstar Maximilian Schell, „der mein Freund ist und der bestimmt kommen wird“, zum Einstieg schon mal ein Ass im Ärmel hat.

Schließlich die Infrastruktur. Für de Hadeln ein entscheidender Punkt: „Sie brauchen einen großen Saal mit mindestens 1.000 bis 1.200 Plätzen und mehrere kleine.“ Genau hier schwächelt die Insel. Die wirklich großen Kinosäle sind alle geschlosssen oder wurden in Multiplexe umgebaut, man müsste andere Säle adaptieren. Carreras und sein Team prüfen derzeit Möglichkeiten in der Altstadt von Palma oder dem unmittelbaren Umfeld.

Hier steckt der Teufel im Detail. Das MAIFF-Team hat zum Beispiel das Teatre Principal im Visier. Aus der Zusammenarbeit mit Palmas städtischen Theaterhäusern hat jedoch Rafael García Loza, Direktor des gescheiterten „Europfilm“-Festivals, gemischte Eindrücke mitgenommen. „In meiner 20-jährigen Karriere als Festivalorganisator ist es mir nur ein einziges Mal passiert, dass ein Film verbrannt ist, weil sich der Techniker mitten in der Vorführung für eine Zigarettenpause aus dem Staub machte. Und das war im Teatre Municipal in Palma.“

Für García Loza wäre das Auditorium der ideale Festival-Saal. „Wir haben diese Möglichkeit geprüft, aber da wollten die Institutionen nicht mitziehen, weil dieser Saal privat ist.“

Schließlich die Frage, ob man wirklich von null weg ein wirklich großes Festival quasi blitzgebären kann. „Die meisten Festivals sind gewachsen“, sagt de Hadeln. Als einziges A-Festival, das sozusagen schlüsselfertig in die Wiese gestellt wurde, fällt dem Ex-Berlinale-Direktor Rom ein. „Allzu enthusiastisch war die Reaktion darauf aber bislang nicht.“

Ein näher liegender Bezugspunkt ist Ibiza: Dort versucht der Katalane Xavier Benlloc seit 2007, das Ibiza Film Festival zu etablieren, holt auch reihenweise VIPs auf die Insel - John Hurt, Cuba Gooding jr., Jacqueline Bisset -, trotzdem bringt er es mit Kratzen und Beißen gerade mal auf ein Budget von 300.000 Euro und ist über das Sieben-Millionen-Budget des MAIFF doch „sehr erstaunt“.

Derweil scharrt Carreras energisch in den Startlöchern: „Das Festival kann besser werden oder schlechter, wird mehr gefallen oder weniger, aber es findet statt, es ist eine Realität.“ Und damit sei ein entscheidender Schritt getan.