Bei ihrem ersten Spaziergang an der Westküste Mallorcas blieben sie alle paar Schritte stehen, um alles ganz genau anzuschauen. „So schön war es", sagen Ernst Wegner (77) und seine Partnerin Maria Heitkämper (75). Für die beiden Leipziger war ihre erste Reise 1994 auf die Mittelmeerinsel keine Selbstverständlichkeit, 40 Jahre lang hatten sie in der DDR gelebt, konnten höchstens mal sozialistische Bruderländer besuchen. Mallorca war für sie nicht ein Urlaub von vielen, sondern Symbol für die wiedererlangte Freiheit. Hier erkundeten sie die Tramuntana, spazierten durch Palma und kauften auf dem Markt von Sa Pobla ein. Wegner und Heitkämper gefiel es so gut, dass sie seitdem immer wieder nach Mallorca gekommen sind. Neben mehreren Kurzreisen in nähere Regionen ist die Insel stets der Höhepunkt im Reisejahr der beiden. „Das ist ein wunderbares Geschenk", sagen sie. In diesem September sind sie zum 17. Mal in ihrem Stammhotel in Peguera.

So wie Wegner und Heitkämper erging es vielen früheren DDR-Bürgern. Nach dem Mauerfall am 9. November 1989 gab es kaum etwas Spannenderes für die Ostdeutschen, als die Welt mit eigenen Augen kennenzulernen. Die Reiseveranstalter konnten die Nachfrage kaum bewältigen. „Alle wollten verreisen. Auf Mallorca legten sie sich dann auch nicht an den Strand, sondern wollten so viel wie möglich sehen", sagt Angela Sommerlatte. Die Vertriebsverantwortliche für die Region Ost beim Reiseveranstalter Thomas Cook schulte die neuen Mitarbeiter der mehr als 1.000 Büros, die Neckermann damals innerhalb eines Jahres eröffnete.

Dabei stand Mallorca zunächst nicht an erster Stelle der Reiseziele. „Erst seit Mitte der 90er Jahre hat auch das westliche Mittelmeer stark von den Ostdeutschen profitiert", sagt Dagmar Tutein, Sprecherin der Rewe-­­Pauschaltouristik. Zunächst seien die Ostdeutschen vor allem in Nachbarländer und zu günstigeren Zielen in der Türkei und Nordafrika gereist.

In den ersten Jahren nach dem Mauerfall hatten die neuen

Bundesbürger einen gewaltigen Nachholbedarf. „Die Leute buchten drei bis vier Reisen auf einmal", erinnert sich Marion Wieschollek, die nach der Wende bei Neckermann angefangen hatte, ohne jemals selbst vorher im Ausland gewesen zu sein. In einem Schnellkurs hatte die heute 50-Jährige das Wichtigste über Zielgebiete und Buchungsvorgänge gelernt. „Wir wussten selber nicht, was die Kunden erwartete, aber das war erst einmal egal, für uns war alles interessant."

Ihre eigene Reisesehnsucht wuchs mit dem ersten Trip an die Costa Brava 1991. „Ich kam mir vor wie ein Kind, das das erste Mal einen Weihnachtsbaum sieht", erinnert sich die heute 50-Jährige. Wenig später kam sie mit einer Informationsreise für Neckermann-Mitarbeiter nach Mallorca. „Ich war so bewegt, dass ich unaufhörlich Fotos knipste. Die Landschaft, das Licht, die Strände – alles war so anders als an der Ostsee", erinnert sie sich. Auch ihre Kunden konnte sie nun besser beraten. „Statt ´hier stehen einige Hotels´ konnte ich nun sagen, da sind 120."

Erfreut waren auch die Mallorquiner über das plötzliche Wachstum des deutschen Marktes. Sie schätzten die ostdeutschen Touristen, die sich anfangs noch deutlich von den Westdeutschen unterschieden. „Sie waren weniger direkt und fordernd, sondern eher still und schüchtern, sehr respektvoll, fast verlegen und gehemmt", sagt Manuel Tigre, Hoteldirektor des Viersternehauses Garonda an der Playa de Palma. Die Urlauber fielen auch mit ihrem Erscheinungsbild auf. „Sie trugen ältere und weniger modische Kleidung, andere Brillen, eher wie Russen." Dem damaligen Verkaufsdirektor der Hotelkette Royal Tour, Tito Robles, fiel bei seiner Werbetour in den frühen 90er Jahren in Deutschland auf, dass die Ostdeutschen zwar sehr interessiert, aber auch misstrauisch waren und befürchteten, im Ausland übers Ohr gehauen zu werden.

Gute Erinnerungen an ihre ersten Gäste aus der DDR hat die Reiseleiterin Astrid Schäfer. Im Sommer 1990 betreute sie die Ostdeutschen in Can Picafort. „Sie waren unglaublich neugierig, beim Begrüßungstreff hingen sie regelrecht an meinen Lippen, sie fragten viele Sachen, die für andere normal waren." Behutsam habe sie viele Dinge erklären müssen, etwa warum die Getränke beim Frühstück im Hotel im Preis inklusive waren, beim Abendessen aber nicht.

Schäfer schätzte die Begegnungen mit Menschen, die so wissbegierig waren und sich freuen konnten. Mit Rührung denkt die 55-Jährige an ein älteres Ehepaar zurück. Beim gemeinsamen Kaffeetrinken im Garten sagten die beiden mit feuchten Augen: „Sie wissen gar nicht, was das für uns bedeutet. Wir konnten eine Palme nur im Fernsehen sehen und jetzt sitzen wir daneben und können sie berühren."

Aber auch einige Missverständnisse und amüsante Vorfälle sind in Erinnerung geblieben. Schäfer, des Sächsischen nicht mächtig, verstrickte sich in eine ausweglose Kommunikation mit einem Ehepaar. „Da saßen die bei mir und wollten anscheinend die ­Insel-Rundfahrt buchen, sagten aber immer Nö." Schäfer wurde ungeduldig, dann verstand sie, dass ´nö´ eigentlich „ja" hieß.

In der Printausgabe lesen Sie außerdem:

- Clevere Geste: Wie die Balearen-Regierung Tausende Ostbürger nach Mallorca einlud

- Die DDR im Lehrplan auf Mallorca

Nächste Folge: Wie sich ein mallorquinischer Bauunternehmer am Aufbau Ost beteiligte.