In der Kathedrale (La Seu) ist der Blick des Besuchers normalerweise nach oben gerichtet, aus gutem Grund. Wäre der Boden aber aus Glas und könnte man durchs Erdreich hindurchsehen, gäbe es ein zusätzliches Motiv, die Augen an die höher gelegene Pracht zu heften. Denn der Besucher schreitet über ein Feld des Schreckens. Die Archäologin Magdalena Riera, die an mehreren Projekten im nebenan gelegenen Königspalast La Almudaina und in der Kathedrale mitwirkte, erinnert sich mit Grausen an Ausgrabungen im Boden der Seu: „Da steht man sofort bis zu den Knien in menschlichen Überresten.“

Kirchen waren im Mittelalter immer auch Friedhöfe, und die Kathedrale war als letzter Ruheplatz oder Wartesaal der Wiederauferstehung ein besonders begehrter Ort. In La Seu fand auch das größte Massenbegräbnis jener Zeit statt. Ursache war eine Naturkatastrophe, die bis heute ihre Spuren im Stadtplan hinterlassen hat: der diluvi de la Riera, jene Sturzflut, die im Jahr 1403 eine Schneise quer durch den Stadtkern schlug und quasi den Weg für die spätere Stadtverschönerung mit Rambla und Borne freimachte. Von 5.000 Toten berichten die Chronisten. Die Stadtverwaltung bezahlte das Begräbnis, allerdings standen die Domherren vor Platzproblemen, weshalb die Toten „zwischengelagert“ wurden, bis nur noch die Knochen übrig waren und diese im Untergrund der Kathedrale bestattet werden konnten.

Zuvor hatten Pestepidemien für unerträgliche Bedingungen in den Kirchen des mittelalterlichen Palmas gesorgt, mehrere Gotteshäuser mussten wegen der vielen Begräbnisse von Pestopfern vollständig zugekalkt werden. Auch in der Kathedrale gab es Probleme: Ein Vermerk im Archiv besagt, dass die Domverwaltung zwei Monate lang ein Haus für die Proben des Chors anmieten musste, weil man es in der Kirche vor lauter Gestank nicht aushielt.

Es ist eine morbide, aber auch faszinierende Welt, über die der Besucher meist ahnungslos schreitet. Archäologen und Historiker lecken sich die Finger, doch zum Zug kommen sie nur dann, wenn bautechnische Maßnahmen anstehen, denn eine archäologische Kampagne im eigentlichen Sinn wurde noch nie genehmigt - ein Garant dafür, dass viele Geheimnisse weiter gewahrt bleiben.

Der Wissenschaft öffnen sich jeweils nur kleine Gucklöcher in die Eingeweide der Seu. Als Techniker eine Grabung durchführten, um an die Fundamente einer der Säulen zu gelangen, stießen sie umgehend auf Knochen und komplette Särge, und im März 2000 identifizierten Archäologen die Reste römischer Thermen aus dem dritten nachchristlichen Jahrhundert. Auch Krypten und Gruften durchziehen den Untergrund, und irgendwo müssen die Grundmauern der ehemaligen Hauptmoschee der Medina Mayurqa, der islamischen Inselhauptstadt, schlummern.

Diese letzten Reste des wahrscheinlich großartigsten Bauwerks der arabischen Herrschaft sind bis heute unentdeckt. Und das, obwohl die Moschee den Christen nach der Eroberung noch jahrzehntelang als Bethaus diente, obwohl der Bau der Kathedrale - anders als die Legende erzählt - erst Anfang des 14. Jahrhunderts in Angriff genommen wurde. Will heißen: fast 100 Jahre nach dem Triumph der Christen.

Möglicherweise - so lautet jedenfalls die Theorie des Historikers Joan Domenge i Mesquida - geht das Projekt auf den Wunsch von Jaume II. zurück, an die zweckentfremdete Hauptmoschee ein kleines Familienmausoleum anzubauen, und alles, was historische Dokumente über Arbeiten an einer am selben Ort stehenden Kirche namens „Santa Maria“ preisgeben, bezieht sich eigentlich auf die umgemodelte Moschee. Mangels Funden bleibt auch die Theorie unbewiesen, dass die Mauern der Kathedrale rund um die intakte und weiter benutzte Moschee emporwuchsen, bis das islamische Gotteshaus quasi eingehüllt war und abgetragen wurde.

Das Geheimnis bleibt bestehen, obwohl das „Archivo capitular de Mallorca“, das Domarchiv, einen weit präziseren Blick in die Vergangenheit erlaubt. In seinen Räumen direkt über dem Museum bewahrt das Archiv u.a. die Bücher, in denen das Projekt Kathedrale minuziös protokolliert ist. Der älteste erhaltene Band informiert darüber, wer in den Jahren 1327 bis 1339 am Bauprojekt beteiligt war, bis hin zum kleinsten Lieferanten, vollständig mit Datum, Namen und ausbezahlter Summe. Ist damit nicht geklärt, wann alles begann? Nein, denn die lückenlos erhaltene Buchführung der Bischöfe setzte erst ein, als das Königreich Mallorca die Verantwortung über dieses Bauprojekt an die Diözese weiterreichte.

In jedem Fall ist das Archiv eine Goldgrube für Historiker. Seit die Diözese Mallorca vor rund 700 Jahren gegründet wurde, sammelt das Archiv alle Schriftstücke, die der Betrieb der Kathedrale produziert hat: Versammlungen der Domverwaltung, Hochzeiten, Beerdigungen, Messen, Spenden, dazu Chormusikbücher im Wandschrankformat und das erwähnte „Libro de Fábrica“. Das Bauprotokoll ist zwangsläufig ein Fortsetzungsroman, denn an der Kathedrale wurde erst mal 300 Jahre lang gebaut, bis im 17. Jahrhundert endlich die Hauptfassade eingeweiht werden konnte. Alles ist registriert, weder Kriege noch Piratenüberfälle haben das Archiv je in Mitleidenschaft gezogen. Nur die Zeit nagt an diesen Schätzen, deshalb wird seit rund zehn Jahren der gesamte Bestand digitalisiert. Und wenn ein Mallorquiner etwas über seinen 1533 in der Kathedrale beerdigten Uurururahnen erfahren will, muss er nur zum Domarchivar kommen.

Im Shop der Kathedrale erspäht der Besucher eine weitere historische Facette dieses heiligsten Bodens der Insel: Drei Stein­sockel sind durch eine Glasscheibe im Boden erkennbar. Das wirkt im Vergleich mit der Pracht der Kathedrale zwar mickrig, stellt jedoch eines der wenigen Gucklöcher in die römische Vergangenheit Palmas dar: Genau hier, unter dem Boden des Ladens, verlief eine von Statuen gesäumte Straße der ursprünglichen Römersiedlung. Wenn man den Domshop verlässt, betritt man deren Verlängerung: Sant Roc ist eine der wenigen Gassen, die bis heute dem original römischen Verlauf folgen. Auf den erwähnten Sockeln standen übrigens Götterstatuen, gefunden wurde bis heute eine einzige Marmorhand.

Eher kurios ist ein anderer Fund: Eine auf historische Wandzeichnungen spezialisierte Archäologin entdeckte im Glockenturm der Kathedrale die jahrhundertealte Darstellung eines Schiffs. Eine Erinnerung daran, dass La Seu die einzige gotische Kathedrale ist, die direkt ans Meeresufer gebaut wurde.

In der Printausgabe lesen Sie außerdem:

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