Auf diesen Ansturm waren auch die Statistiker nicht vorbereitet. Gerade einmal 8.779 Immigranten aus Südamerika zählte das Nationale Statistik-Institut (INE) im Jahr 1999 auf den Balearen – gesondert erfasst wurden nur Argentinier, Venezolaner und Brasilianer. Zehn Jahre später kommt das kleine Uruguay schon fast auf diese Zahl von Einwanderern auf den Balearen. Vorläufige Bilanz der Latino-Invasion: 85.236 Neubürger aus Südamerika, knapp 8.000 aus Mittelamerika und der Karibik – sowie weitere Immigranten ohne Aufenthaltsgenehmigung, die noch von keiner Statistik erfasst sind. Rund ein Zehntel der Balearen-Bevölkerung hat somit seine Wurzeln jenseits des Atlantiks.

Die Lateinamerikaner landeten hauptsächlich mit dem dritten Schub der Einwanderungswelle ab 1989 auf Mallorca. Hatten in einer ersten Phase (1955-1973) vor allem Festlandspanier eine Anstellung im Tourismus gesucht und in einer zweiten Phase (1974-1988) Senioren aus dem EU-Ausland einen sonnigen Altersruhesitz, flüchteten die meisten latinos in dieser dritten Phase vor den wirtschaftlichen Problemen in ihrer Heimat.

Während zum Beispiel in Argentinien ab 1998 Rezession, Arbeitslosigkeit und der Kollaps des Finanzsystems der Bevölkerung zusetzten, lockte der Arbeitsmarkt auf Mallorca: Neben dem boomenden Bausektor entstanden vor allem im Tourismus neue Jobs. Wer keinen europäischstämmigen Großvater hatte, löste trotzdem ein Flugticket nach Palma: Die zu dieser Zeit noch lockeren Einreisebestimmungen ermöglichten es, auch ohne Aufenthalts-genehmigung als Tourist in Spanien einzureisen – und einfach das Rückflugticket verfallen zu lassen.

Inzwischen sind knapp 25.000 Argentinier offiziell auf den Balearen gemeldet. Damit liegen sie hinter den Deutschen (35.000) und knapp vor den Briten (23.300) und Marokkanern (22.500). Dahinter folgen Kolumbianer (12.300), Ecuadorianer (15.000), Uruguayer (8.000) und Bolivianer (7.700). Hinzu kommen 5.500 Brasilianer, 4.000 Chilenen, 3.800 Kubaner, 3.200 Peruaner, 2.600 Paraguayer sowie 3.200 Immigranten aus der Dominikanischen Republik.

Im Gegensatz zu den Einwanderern aus Afrika, Asien oder Osteuropa haben die Lateinamerikaner einen Startvorteil auf dem mallorquinischen Arbeitsmarkt: Von den Brasilianern abgesehen, ist Spanisch ihre Muttersprache – und die Unterschiede bei Aussprache und Vokabular schleifen sich schnell ab. So ist zu erklären, dass viele Argentinier oder Uruguayer in Dienstleistungsberufen und im Tourismus arbeiten, Marokkaner oder Senegalesen dagegen eher auf dem Bau. Der Soziologe Joan Miralles, der mit weiteren Autoren eine umfassende Studie zur Einwanderung auf Mallorca verfasst hat, macht für die Spezialisierung aber auch kulturelle Unterschiede verantwortlich. So sei ein Kellner-Job in einer Bar mit reichlich Alkoholausschank keine ideale Beschäftigung für einen Muslim.

Es gibt natürlich auch viele wohlsituierte lateinamerikanische Einwanderer (siehe Seite 4-5), doch die meisten von ihnen sind im Niedriglohnsektor untergekommen. Während die Männer in der Gastronomie, auf dem Bau oder in der Landwirtschaft arbeiten, pflegen die Frauen Senioren oder putzen in Privathaushalten.

Im Vergleich zu Einwanderern von anderen Kontinenten besteht ein Frauenüberschuss. Bei den latinos gebe es 13 Prozent mehr Frauen als Männer, bei Afrikanern 109 Prozent mehr Männer als Frauen, sagt Miralles. Das mag an unterschiedlichen kulturellen Traditionen liegen, aber auch daran, dass die illegale Einreise als afrikanischer Bootsflüchtling alles andere als gefahrlos ist.

Weitere Unterschiede zeigen sich zwischen den südamerikanischen Nationen. Während sich Argentinier auf Mallorca beispielsweise als Verkäufer, Rettungsschwimmer oder in Tourismusjobs verdingen, finden laut Sozialversicherungsstatistik Bolivianer, Kolumbianer und Ecuadorianer ihr Auskommen stärker in der Landwirtschaft. Vor allem in Folge der Immobilienkrise setzten viele seiner Landsleute auf die Kartoffel- oder Mandelernte, sagt Carlos Villalba, Vorsitzender der Vereinigung der Ecuadorianer und Vizevorsitzender der balearischen Dachvereinigung der Immigranten (FAIB).

Der Arbeitsplatz bedingt oft auch den Wohnort. Villalba erklärt so die Konzentration von Ecuadorianern in Sa Pobla, dem Zentrum des Kartoffelanbaus, und anderen Gemeinden in der als Pla bezeichneten Inselmitte. Die meisten latinos schlagen jedoch in der Hauptstadt Palma ihr Lager auf. Die höchste Konzentration hat Soziologe Miralles in den Vierteln rund um das Zentrum festgestellt. Während EU-Ausländer in restaurierten Altstadtwohnungen des Zentrums einzögen, lebten zahlreiche Lateinamerikaner in Vierteln wie Pere Garau, Gomila oder etwa im Gebiet rund um die Carrer Manacor. Dort dominierten Wohnungen aus den 1930er bis 1950er Jahren, aus denen die einheimische Bevölkerung weitgehend ausgezogen sei, sagt Miralles.

Zur Konzentration der Latino-Hotspots tragen auch die Nachzügler aus der südamerikanischen Heimat bei: Wer schon einen Bekannten oder Onkel auf Mallorca hat, zieht zunächst dort oder in der Nachbarschaft ein. Der sogenannte Segregationsindex, der die Konzentration der Landsleute in einem Gebiet mit einem Wert zwischen 0 und 1 misst, ist jedoch vergleichsweise gering. Laut der Studie liegt er bei Lateinamerikanern insgesamt in Palma bei 0,25 (Afrikaner: 0,43; Asiaten: 0,45). Vor allem unter sich bleiben in der Balearen-Hauptstadt Bolivianer (0,54) und Ecuadorianer (0,36). Das erklärt Miralles mit einer stärker ausgeprägten Armut bei diesen Immigranten, die deswegen intensiver auf gegenseitige Hilfe angewiesen seien.

Im Zuge der Wirtschaftskrise hat Mallorca inzwischen viel von seiner Attraktivität verloren (siehe Seite 10). Gerade im Bausektor sind Jobs heute eher Mangelware, und die Arbeitsbedingungen haben sich besonders für Ausländer verschlechtert. Selbst Facharbeiter unter seinen Landsleuten müssten einen Stundenlohn von 5 Euro in Kauf nehmen, klagt Ecuadorianer-Sprecher Villalba.

Zudem hat die spanische Regierung mit neuen Einreisebestimmungen den Einwanderungsboom gebremst: Immigranten müssen zum Teil Visa, offizielle und teure Einladungsschreiben von direkten Verwandten oder etwa Stipendien vorweisen. Wer in Madrid-Barajas mit leeren Händen aus dem Flieger steigt, wird zurückgeschickt. Manche Länder wie Uruguay locken zudem auch mit steuerlichen Vergünstigungen die Emigranten zurück in die Heimat – die dortige Wirtschaft braucht junge Leute mit guter

Ausbildung.

Trotz alledem ist sich Soziologe Miralles sicher, dass die meisten Einwanderer nicht wieder abreisen werden – und die Zahl der Rückkehrer werde langfristig durch neue Immigranten ausgeglichen. „Schauen Sie sich nur an, wie die meisten in ihren Ländern auskommen müssen", sagt der Wissenschaftler. Er verweist zudem auf die wirtschaftlichen Vorteile für Mallorca: Die Immigranten erwiesen sich als billige, flexible und komplementäre Arbeitskräfte, erhöhten die Nachfrage, zahlten wichtige Sozialbeiträge und bremsten die Alterung der Bevölkerung. Und wenn Bildungs- wie Gesundheitssystem auf den Ansturm nicht vorbereitet sind, sei das vor allem ein Koordinierungsproblem zwischen Region und Zentralregierung.

Größere Sorgen bereitet den Soziologen dagegen die kulturelle Integration der Lateinamerikaner. Die Bereitschaft, Katalanisch zu lernen, sei gering – schließlich sei man ja durch die Hispanität verbunden. „Vielen ist zunächst gar nicht bewusst, dass hier auch eine andere Sprache gesprochen wird."

Alles über Lateinamerikaner auf Mallorca - im großen Themenschwerpunkt der Printausgabe. Alle Artikel finden Sie auch hier.