Eigentlich hätte Rosa Jacinto schon im Alter von rund 14 Jahren heiraten sollen, so wie ihre Schwester. Doch sie weigerte sich - so wie sie auch gegen andere Traditionen der Gitanos aufbegehrte. „Ich habe schon früh gemerkt, dass mir ein anderes Leben gefällt“, sagt die heute 33-Jährige. Ihren Mann suchte die Rebellin lieber selbst aus - erst im Alter von 18 Jahren und noch dazu einen payo, wie die Gitanos alle Menschen außerhalb ihrer Volksgruppe nennen. Statt ausschließlich Kinder, Küche und Schwiegermutter zu hüten, ging sie ins Fitnessstudio. Und obwohl sie früh die Schule abbrechen musste, arbeitet sie heute als Friseurin - statt als Verkäuferin auf dem Markt, so wie als Kind.

„Ich bin eine moderne Gitana“, sagt Rosa selbstbewusst und fasst damit die Gratwanderung zusammen, die sie in ihrem Leben vollführt. Waren ihre Eltern fest verwurzelt in den Traditionen, hat Rosa selbst für sich entschieden, welche davon sie für ihr Leben gelten lässt - und für das ihres zehnjährigen Sohnes. „Das ist mein Trauma“, sagt Rosa. „Er soll nicht dasselbe wie ich erleiden und eine gute Ausbildung bekommen.“

Friseurin oder Marktverkäuferin, Antiquitätenhändler oder Schrottsammler, Anwalt oder Drogendealer - das gesellschaftliche Spektrum der Gitanos auf Mallorca ist weit. Einerseits sind sie schon vor langer Zeit auf Mallorca angekommen. Andererseits leben viele noch heute im Ghetto. Und während zahlreiche Gitanos fest in die payo-Welt integriert sind und Drogenclan-Chefin La Paca nur von den Titelseiten der Zeitung kennen, sind es auf Mallorca doch meistens die Bewohner des Baracken-Viertels Son Banya (siehe S. 6.), die das Bild der Gitanos bestimmen.

Wenn Rosa Jacinto mit dieser Welt nichts zu tun hat, liegt das nicht nur an ihrer persönlichen Emanzipation, sondern auch an den verschiedenen Gruppierungen, in die sich die geschätzten 10.000 auf Mallorca lebenden Gitanos unterteilen lassen. Zahlenmäßig am stärksten vertreten sind die gitanos catalanes, von denen viele ihre Wurzeln in Katalonien oder Frank-reich haben, aber schon seit Generationen auf Mallorca leben.

„Wenn ich in einer Bar in Barcelona auf eine Gitana stoße, sind wir sofort auf der gleichen Wellenlänge“, sagt Rosa Jacinto. Die gitanos catalanes arbeiten zum Beispiel als Markthändler, und ihren Lebensmittelpunkt haben viele von ihnen rund um das Levante-Viertel in Palma. Auch in der Gegend von Molinar dringt nachts mitunter von der Gitarre begleiteter Flamenco-Gesang durchs Fenster.

Dann gibt es die gitanos castellanos, mit Wurzeln vor allem in Südspanien, von wo weitere Familien in den vergangenen Jahrzehnten auf die Insel kamen. Sie leben stärker im Ghetto, neben Son Banya auch in Son Gotleu oder Arenal. Beide Gruppierungen sprechen die Roma-Sprache romaní - jedoch jeweils in ihrer katalanischen oder spanischen Variante.

Im Zuge der Einwanderung aus Osteuropa sind in den vergangenen Jahren zudem auch Gitanos aus Bulgarien und Rumänien als dritte Gruppierung hinzugekommen. „Wir werden nur wahrgenommen, wenn diese Menschen auf der Straße betteln“, sagt Juan de Dios Ramírez, Präsident der spanienweiten Vereinigung Unión Romaní. „Das scheint unser trauriges Schicksal zu sein.“ Seit einigen Wochen hat zudem die europaweit umstrittene Politik Frankreichs, Tausende Roma aus Osteuropa in ihre Heimatländer abzuschieben, auch die Gitanos in Spanien ins Zentrum der Aufmerksamkeit gebracht. „Auch hier gibt es Fälle von Rassismus“, sagt Gitano-Sprecher Ramírez und begrüßt, dass die EU-Kommission mit Frankreich hart ins Gericht geht. Justizkommissarin Viviane Reding sprach am Dienstag (14.9.) von einer „Schande“ und drohte Paris mit rechtlichen Schritten wegen Verstößen gegen EU-Recht.

Im Gegensatz zu Frankreich und anderen Ländern seien die Gitanos in Spanien seit 500 Jahren akzeptiert, sagt Ramírez. „Es ist das Land, das uns am besten aufgenommen hat.“ Auch auf den Balearen kenne er sehr viele Gitanos, die sich vorbildlich integriert hätten. „Heute können wir nicht mehr am Rande der Gesellschaft leben.“

Die große Mehrheit der Gitanos auf Mallorca seien Bürger wie alle anderen, lautet auch die Einschätzung im Sozialamt von Palmas Stadtverwaltung. Das Ghetto in Son Banya sei zahlenmäßig ein eher unbedeutender Teil der auf Mallorca vertretenen Ethnie. Ohnehin seien Bildungsstand und Einkommen ausschlaggebender für die Integration als die ethnische Zugehörigkeit.

Auch bei modernen Gitanos lebt die Tradition zum Teil weiter - es sei ein Lebensgefühl, das man einfach im Blut habe, wie Rosa Jacinto sagt. Weiterhin hoch hält sie beispielsweise den Respekt vor der älteren Generation - auch wenn sie selbst gegen den geforderten absoluten Gehorsam ihrem Vater gegenüber aufbegehrt hatte. „Niemals würde ich meiner Mutter gegenüber ausfällig werden.“

Auch den Zusammenhalt und die Gastfreundschaft schätzt die 33-Jährige nach wie vor. „Alle Gitanos sind praktisch meine Onkel und Tanten“, sagt Jacinto - und das auch nach ihrem Absprung in die payo-Welt. Als Gitano sei man immer willkommen und könne felsenfest auf die Unterstützung der anderen vertrauen, wenn man zum Beispiel in Not gerate.

„Wenn ich dir meine Hilfe anbiete, dann tue ich es von Herzen“, beschreibt auch Son-Banya-Patriarch Gabriel Cortés das Lebensgefühl seiner Leute. „Wir geben uns mit wenig zufrieden - das Leben dauert doch sowieso nur vier Tage.“ Die andere Seite der Medaille: Die Solidarität gilt auch im Konfliktfall - was als Warnung verstanden werden kann, sich keinen Ärger mit einem Gitano einzufangen. Und dann wären da noch jene zum Teil weiter praktizierten Traditionen, die mit einem modernen Frauenbild nur schwer in Einklang zu bringen sind: Heirat im Jugendalter mit der noch jungfräulichen Braut, reiche Kinderschar sowie ein Ehemann, der absoluten Respekt und Gehorsam einfordert.

Die meisten Konflikte seien auf die extreme Not vieler Familien zurückzuführen und hätten ihren Ursprung in sozialer Benachteilung und rassistischer Gewalt, sagt Ramírez. Spanien habe sich seit dem Tod Francos radikal gewandelt. „Bei uns ist dieser Wandel langsamer, deswegen haben die Unterschiede zwischen Gitanos und payos weiter zugenommen.“

Rosa Jacinto jedenfalls will sich von den Regeln und Bräuchen ihres früheren Lebens nicht mehr vereinnahmen lassen. In ihrer Wohnung in Palma ist Verwandten-Besuch zwar stets willkommen, und ihr Sohn bekommt so von Cousins und Cousinen ein bisschen Gitano-Welt mit. Treffen und Familienfeste sowie auch der Gottesdienst der evangelikalen Kirche (Iglesia Evangélica), wo Jacinto früher als Kind im Chor gesungen hatte, gehören jedoch der Vergangenheit an.

Was bleibt, ist vor allem die kulturelle Identität. „Ich brauche einfach Niña Pastori“, sagt Jacinto beispielsweise mit Verweis auf die andalusische Flamenco-Sängerin. „Das trage ich in der Seele.“ Ihre Begeisterung gilt aber genauso dem indischen Philosophielehrer Osho, dessen Schriften sie liest. Allein vom Tanzen und Singen komme man im Leben nicht weiter - eine Botschaft, die sie auch ihrem Sohn vermitteln will. „Wenn ich weiter zur Schule hätte gehen dürfen, hätte ich es zu mehr im Leben gebracht.“ Zum Glück bringe ihr zehnjähriger Sohn gute Noten nach Hause. Und auch, wenn er nun außerhalb der Gitano-Welt aufwachse, fließe in seinen Adern das Blut der Mutter.

In der Printausgabe lesen Sie außerdem:

- Interview mit dem Son-Banya-Patriarch

- Spaniens Zigeuner: Gitano, Zíngaro oder Roma?

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